Amtsstuben-Muff

— Jg. 1921, Nr. 33 —

In Deutschland wird auf die Bürokratie mit innerer Genugtuung geschimpft. Und mit Recht. Denn es gibt nichts, was die kleinen Alltäglichkeiten so gallig und widerwärtig machen kann wie der Amtsstubenmuff. Der Bürger — ruhig, wie er ist — steckt alle Zurechtweisungen und Gedankenlosigkeiten ein, bis er gelegentlich eines Renkontres mit einem im Frühstück gestörten Beamten in „Eingesandt“ oder Schimpfkanonade seinem Herzen Luft macht. Dadurch fühlt er sich befreit — bis zum nächstenmal. War er im wilhelmischen Deutschland bösartigen Charakters, so trug er nach und wählte rot. Seine subalterne Gesinnung unterschied sich im Grunde garnicht vom Aktenmenschen. Da die täglichen Kleinigkeiten den Charakter bekunden und bilden, ist der Bürokratismus nicht eine nebensächliche Lächerlichkeit, über die man hinwegsehen könnte, er ist ein kulturpolitisches Charakteristikum des Deutschen. In den Amtsstuben wird dieser stickige Geist zwar in Reinkultur gezüchtet, bei näherem Zusehen aber macht er sich überall breit: in Schule, Haus und Wirtschaft, am Stammtisch wie auf der Wanderung. Er gedeiht zwischen Tintenfaß und Aktenständer auf dem Boden der Pensionsberechtigung am besten, aber das ganze öffentliche Leben ist infiziert. Nur daß man dann nicht mehr von Bürokratismus spricht, sondern von Banausentum, Kleinigkeitskrämerei, Engstirnigkeit. Insofern ist der Beamte entschuldigt.

Wenn das Kind zum ersten Male in das kultusministeriell vorgeschriebene Heft mit genehmigter Feder einen regelrechten Satz schreibt, fließt der trübe Geist der Beschränktheit mit ein. Der Jüngling nach bestandener Promotion bzw. Staatsarbeit „über das Wenn und Aber bei Heinrich von Veldecke“ nimmt den dicken Muff mit ins Leben hinaus, der, elementar zerlegt, aus folgenden Grundstoffen sich zusammensetzt: Besserwissen, Vorrecht, Minderwertigkeit der Nebenmenschen, Anciennität als Prinzip. Lehranstalt und Universität beglaubigen im Diplom die durch Examen erhärtete Zusammensetzung des Muffs. Ein Esel attestiert dem anderen die Qualifikation. Gleich ob Jurist, Filologe oder Militäranwärter, hat der Prüfling gelernt, das Leben zu rubrizieren, alle vorkommenden Fälle begrifflich zu subsumieren unter bekannte Größen. „Was man nicht deklinieren kann, sieht man als Aktenrest dann an.“ In Praxis heißt man dies: nach Schema „F“ arbeiten. Es gibt keinen Beruf, der davon frei wäre.

Bei aller Lächerlichkeit hat dieser muffige Geist seine sehr, sehr ernste Bedeutung. Bismarck beklagte sich mit Recht über den Ehrgeiz der Geheimräte, das Volk mit einem Gesetz zu beglücken, über dessen Materie sie als Assessoren einmal nachdenken durften. Die moderne Art der Gesetzgebung ist ein legitimes Kind dieser Gesinnungsart, genau so wie die überhebliche Verwaltung. Gesetzgebungsarbeit ist auch Schema F-Arbeit nach vorgeschriebenen Formularen. Das Ungewöhnliche, aber eminent Wichtige bleibt Aktenrest: „Das haben wir noch nicht gehabt.“ Das ist ganz hoch oben genau so wie unten. An irgend einer Stelle zu reformieren, wie es die Amtsknechte an der Rotationspresse verlangen, hat gar keinen Zweck. Was ist bei der Reform des Auswärtigen Amtes herausgekommen, wie steht es mit der Vereinfachung der Verwaltung, was kosten die 100 000 Söldner? Schon durch die Kleinigkeit hätte die sog. Revolution einen Sinn bekommen, sämtliche Akten zu verbrennen und 14 Tage alle Amtstuben mit ihren Insassen auszulüften. Aber die Akten blieben, nur verschwanden die 14 Tage, da es krachte, die Schreiberseelen auf den Locus.

Ich weiß sehr wohl, daß dieser Geist nicht auf mechanischem Wege, weder mit Gewalt noch mit Zureden, auszurotten ist. Er ist die Frucht einer total falschen Erziehung und Selbsteinschätzung des Menschen. Des Menschen? Verzeihung, des Mannes mit Examen, Titel, Grad, Anwartschaft. Und Einschätzung dessen, was man Staat nennt, dieser Institution im Range der Götterschaft. Die Erziehung ist in ihrer Vermittlung von Kenntnissen ganz auf den zukünftigen Beruf eingestellt, die humanistischen Schulen (in Preußen nach Humboldts Plan) präparieren geradezu den Beamten; jeder Charakterbildung ist sie abträglich. Die Selbsteinschätzung redet sich Unentbehrlichkeit, Würde an, die garnicht vorhanden sind. Aber der Staat bestätigt durch Lebenslänglichkeit und besonderen Schutz (vor Beleidigungen beispielsweise) diese hohe Auffassung. Aber es bleibt ein Unsinn, solch hämmorhoidale Seifenblasen auf Kosten der Mitmenschen, die sich obendrein anöden lassen müssen, zu konservieren.

Mit Verfügungen einsichtiger Minister ist es also nicht getan. Im Gegenteil: die überragendste Kraft würde sich nutzlos vergeuden im Kampfe gegen subalterne Stupidität und Passivität. Wir wollen darum die Herren, die sich aus Idealismus (selten) oder persönlichsten Gründen dazu hergeben, den leerlaufenden Mechanismus mit ihrem Namen zu decken, bedauern und Verständnis haben für Adolf Hoffmanns lebenskluges Wort: „Mir sieht hier Keener wieder.“

Manchmal gelüstet einen nach einem Gewaltmenschen, wie etwa Friedrich II. es war, der die Kraft dazu hatte, auszumisten, wo Faulheit, Klischee und Überheblichkeit sich breitmachen. Der Fall Deutschland ist aber anscheinend hoffnungslos, weil wir Spezialisten keine Menschen mehr haben, die die großen Zusammenhänge sehen.

1921, 33 Ludwig H. Schmidts

Nicht zu jedem Amt gab Gott auch den Verstand; es müßte sonst weniger Ämter geben.

1924, 45 Momos