Auf der Karte vergessen

— Jg. 1927, Nr. 1 —

Im Veltlin, nicht weit von der Bernina, an der schweizerisch-italienischen Grenze, liegt das kleine schweizerische Dorf Carajone. Es besteht aus 16 Häusern und hat etwa 100 Einwohner. Als das Veltlin im Jahre 1794 der „Cisalpinischen Republik“ angegliedert und aus diesem Anlaß eine neue Karte von Graubünden entworfen wurde, geschah es, daß Carajone auf dieser Karte nicht eingezeichnet ward, denn es war mit der übrigen zivilisierten Welt nur durch vereinzelte Ziegensteige verbunden und deshalb übersehen worden. Erst im Jahre 1863, bei Festlegung der italienisch-schweizerischen Grenze, wurde das Dorf wieder entdeckt und der Gemeinde Bruzio zugeschlagen, wofür der Bund der Eidgenossen 17 900, der Kanton Graubünden 3600 und die Einwohnerschaft von Carajone 1420 Franken „Eintrittsgeld“ zu zahlen hatten.

Bis dahin, also 69 Jahre lang, zwei Menschenalter, hatte Carajone zu keinem Staate gehört. Seine Bewohner hatten ohne Gesetze gelebt, keine Steuern bezahlt, keinen Militärdienst geleistet, keine Schule und keinen Pfarrer gehabt. Kindstaufen und Trauungen waren, „wenn es nötig war“, aus nachbarlicher Gefälligkeit von italienischen Geistlichen vorgenommen worden.

Die Frankfurter Zeitung, die von diesem weltvergessenen Ort erzählt, nennt die jahrzehntelange Staatenlosigkeit und „unabhängige Existenz“ der Carajonesen einen „glücklichen Fall“.

Demnach wäre es also kein Unglück für eine Gemeinde, keinem Staat anzugehören? Offenbar haben die Leute von Carajone so gedacht, sonst hätten sie es nicht 69 Jahre lang ohne Staat, ohne Gesetz, ohne Steuern und ohne eine Behörde, von der die „Staatsgesinnung“ gepflegt worden wäre, ausgehalten.

Ob die gute Frankfurter Zeitung wohl bedacht hat, daß sie mit ihrer Neuigkeit „aus Welt und Leben“ Wasser auf die Mühle der ihr doch sicher nicht nahestehenden Anarchisten geleitet hat? Daß diese Geschichte geeignet ist, die steinhart gewordenen Anschauungen und Begriffe vom Staat, die uns eingeimpft sind, wenn nicht aufzulösen, so doch einigermaßen zu erweichen?

So, so, man kann also auch ohne Staat und Gesetz leben? Ohne sich aufzufressen? Ohne etwas zu vermissen? Aber das „nationale Empfinden“, wo bleibt dann das? Gibt es das vielleicht gar nicht; und die nationalen „Belange“, sind sie am Ende nur so eine Ausrede für etwas ganz anderes?

Schade, daß es schon so lange her ist seit dem Ende der carajonesischen Unabhängigkeit. Sonst würde ich nächstes Jahr einmal dorthin in die Sommerfrische gehen und die Eingeborenen über das goldene Zeitalter interviewen, das die einen in die Vergangenheit und die andern in die Zukunft legen, und das in Carajone vor nicht allzulanger Zeit Gegenwart gewesen zu sein scheint.

1927, 1 Rauschnabel