Bedarf und Bedürfnis

— Jg. 1927, Nr. 37 —

So, so: im Reichsministerium des Innern wird wieder einmal eine Denkschrift ausgearbeitet. Über die „Gründe des Geburtenrückgangs“. Sehr interessant. Ja, was mag der wohl für Gründe haben?

Wenn ich Herrn Geheimrat einen geheimen Rat geben darf … Nein, nicht das, ich kann mir ja denken, daß die gnädige Frau über Fünfzig ist … Wieviel Kinder? Zwei? Und nur eine Siebenzimmerwohnung? Allen Respekt, das ist ja ganz ungewöhnlich … Nein, etwas Anderes, vielmehr gerade das wollte ich sagen: wenn ich Herrn Geheimrat raten darf, so gehen Sie doch mal nach Zimmer 4327, im Vorderflur links die dritte Türe, zu Ihrem Herrn Kollegen von der Wohnungszählung.

Über diese mit Hilfe von vielen riesigen Papierbogen im Monat Mai durchgeführte Zählung gibt das verehrliche Ministerium des Innern offiziell bekannt: „Das Ergebnis entspricht den bisherigen Schätzungen. An zweiten und weiteren Haushaltungen, die eigene Wirtschaft führen, aber keine selbständige Wohnung besitzen, wurden 660.000, und an weiteren Familien, die weder eigene Hauswirtschaft führen noch eine eigene Wohnung besitzen, rund 240.000 ermittelt. Für die nicht in die Zählung einbezogenen Gemeinden … kommt ein Zuschlag von schätzungsweise 50.000 – 100.000 Fällen in Frage, so daß sich rein zahlenmäßig ein Fehlbetrag von einer Million Wohnungen ergibt.“

Eine Million Wohnungen zu wenig! Aber erschrecken Sie nicht, es ist nicht so schlimm. „Der tatsächliche Bedarf an Wohnungen“, fährt das amtliche Communique fort, „ist diesen Zahlen jedoch nicht unmittelbar zu entnehmen, da nicht jede Haushaltung oder Familie, die keine eigene Wohnung hat, eine solche beansprucht“. Schon in der Vorkriegszeit seien in Mittel- und Großstädten etwa zwei Prozent der Wohnungen mit zwei oder mehr Haushaltungen belegt gewesen; und heute werde man diesen Prozentsatz „zweifelsohne höher annehmen müssen.“

Das haben sie nicht gewußt, daß es so bescheidene Familien gibt? Die keine eigene Wohnung „beanspruchen“? Ja, das gibt es. Fällt ihnen gar nicht ein, zu beanspruchen. Sie würden ja ganz gern eine eigene Wohnung haben, die Leute; aber sie können sie nicht bezahlen, deshalb beanspruchen sie sie nicht, und es existiert in diesem Falle kein Bedarf.

Alle diese armen Menschen bedürfen doch einer Wohnung, erwidern Sie. Wie human Sie denken, Verehrtester! Aber man kann sehr wohl etwas bedürfen, und doch keinen Bedarf haben. Bedürfnis und Bedarf ist eben nicht dasselbe, müssen Sie wissen. Wenn Sie zwar am Verhungern, jedoch leider ohne einen Pfennig in der Tasche sind, so haben Sie keinen „Bedarf“ an Brot. Wenn Sie mit Ihrer schwindsüchtigen Frau und den fünf skrofulösen Kindern — nein, ich fingiere ja nur! — in einem Kellerloch in Berlin-NO bei den lieben Schwiegereltern residieren, aber als Gelegenheitsarbeiter dauernd nichts verdienen, dann existiert Ihrerseits kein Wohnungsbedarf.

Sie verdienten an sich eine Wohnung, natürlich; aber Sie können sie nicht verdienen. Das Bedürfnis wäre da; aber Sie sind zu bedürftig, um einen Bedarf zu haben.

Um auf unser Thema zurückzukommen: daß Menschen, die sich gern haben, auch Kinder möchten, ist an sich das Gegebene. Eine Frau, die einen Mann liebt, hat das Bedürfnis, von ihm Kinder zu bekommen. Aber ohne Wohnung haben sie keinen Bedarf an Kindern.

Für den Statistiker heißt das: Geburtenrückgang. Geheimräte in Ministerien verfassen Denkschriften darüber. Andere Geheimräte in denselben Ministerien befassen sich mit Wohnungszählungen.

In Deutschland herrscht infolgedessen starker Bedarf an Geheimräten. Obwohl sie an sich kein Bedürfnis sind.

1927, 37 · Rauschnabel

Früher wollten die Leute unbedingt in den Himmel kommen, heute sind sie schon mit einem Nachruf im General-Anzeiger zufrieden.

Professoren kommen manchmal schon nach wenigen Jahren ernsten Studiums auf Dinge, über die sich andere erst nach fünf Minuten richtig klar sind.