Christoph Schrempf zum Gedächtnis

Sechs Jahre sind es jetzt her, daß Christoph Schrempf gestorben ist. Wenn es ihm beschieden gewesen wäre wie G. B. Shaw, sich selber zu überleben, dann wäre er heute neunzig Jahre alt, und die Zeitungen würden Artikel über ihn bringen: nicht weil er Christoph Schrempf, sondern weil er neunzig wäre. Im ganz hohen Alter werden sogar unbequeme Zeitgenossen ehrwürdig.

Da Schrempf nun aber tot ist, scheint es fast, als ob man ihn schon vergessen hätte. Seine Bücher werden, wie man hört, nicht viel gekauft. Die Leute haben andere Interessen. War er nicht ein Sonderling, dieser ursprüngliche Pietist und abgesetzte Pfarrer, der das Glaubensbekenntnis nicht mehr gelten lassen wollte und sich ein ganzes langes Leben lang über sein Verhältnis zu Gott Gedanken machte, statt ihn einen guten Mann sein zu lassen? Dieser Theologe, der seinen Beruf so ernst nahm, daß er glaubte, wenigstens in religiösen Dingen dürfe es keine durch stillschweigendes Übereinkommen sanktionierte Unwahrhaftigkeit, keine Herrschaft der Konvention, auf gut Deutsch: keine Lüge geben, auch wenn sie noch so fromm scheine? Wer hat heute schon Zeit für Theologie und Lust zu solchen Diskussionen?

Vielleicht, oder sollten wir sagen: hoffentlich wird es einmal wieder so weit kommen, daß die Menschen Zeit und Lust haben, sich mit den „letzten Dingen“ ernsthaft zu beschäftigen. In zehn, zwanzig, dreißig Jahren; dann wird Christoph Schrempf eines Tages neu entdeckt und als großer religiöser Denker gefeiert werden. Seine gedankliche Auseinandersetzung mit dem überlieferten Christentum wird Sensation machen, nicht bloß nach ihrem Inhalt, sondern vor allem in ihrer besonderen Form: Schrempf ist der erste Theologe, der auf seinem Gebiet die scholastische Methode überwunden hat.

Während etwa in der Naturwissenschaft die Sachlichkeit, die Loslösung von Überlieferung und persönlicher Autorität längst durchgedrungen und selbstverständlich geworden ist, segeln die sogenannten Geisteswissenschaften immer noch im toten Fahrwasser hingenommener Tradition und abgestandener Begriffe. Sie sind, wie Schrempf sagt, ein Fortspinnen vorhandener Meinungen mit einem Seitenblick auf die Sache, statt daß man umgekehrt der Sache nachginge, höchstens mit einem Seitenblick auf die Meinungen, die bereits über sie vorhanden sind. Das ist die Methode des Antischolastikers und Antiromantikers Schrempf. Was andere, was Vorgänger über Gott und Welt gesagt haben, heißen sie wie sie sollen, kümmert ihn erst hinterdrein, nachdem er die Sache selber untersucht hat und sich über sie klar geworden ist. Und bei dieser Untersuchung gibt es für ihn keine Pietät, keine Rücksicht irgendwelcher Art, kein Halten vor irgendeiner Schranke außer der, die dem Erkennen selber gesetzt ist. Die Theologie ist bei Schrempf wirklich zur Wissenschaft geworden, ein Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie ist für ihn nicht mehr vorhanden. Die Begriffe, die beiden eigen sind, haben nicht mehr verschiedenen, aber sie haben einen neuen Inhalt. „Die Religion hört in dem Verhältnis zum wirklichen Gott auf; das Verhältnis zum wirklichen Gott hört in der Religion auf.“

Man begreift, daß es nicht jedermanns Sache ist, sich in dieser Luft zu bewegen. Wer es sich zutraut, dem sei die dreibändige Auswahl aus Schrempfs gesammelten Werken empfohlen, die Otto Engel vor einiger Zeit [1950…] im Frommann’schen Verlag herausgegeben hat: „Religion ohne Religion“, Preis 24 DM; wer nicht so viel Geld hat, der lese Schrempfs „Menschenlos“ (5 DM) oder „Vom öffentlichen Geheimnis des Lebens“ (6 DM), ebenfalls aus dem Frommann’schen Verlag.

Stuttgarter Zeitung, 1950, 98