Christus im Kino

— Jg. 1923, Nr. 50 —

Das „Kleine Theater“ in Heilbronn hat ein paar Tage lang als sinnige Abwechslung und „Vorbote des kommenden Weihnachtsfestes“, wie es in der Ankündigung so schön und pietätvoll heißt, Geburt, Leben und Leiden des Heilandes kurbeln lassen. Es hat seinen eigenen Reiz, auf derselben Leinwand, auf der Chaplin unter Beifallsgewieher seines Stammpublikums seine unbezahlbaren Plattfüße urkomisch in die Welt setzt und der Kultur-Absud einer verrückt gewordenen Epoche Tag für Tag einem hirnleeren Publikum vorgeflimmert wird, den von den Pfaffen beschlagnahmten Christus auf Kinomanier sein dornenvolles Leben abwandeln zu sehen.

Das Ganze ist eine uferlose Geschmacklosigkeit. Sie gefällt also sicher. Eine schöne Legende ist wieder einmal unter die Hände geschäftstüchtiger Regisseure geraten und es ward in jeder Beziehung ein Kinostück daraus. Es ist nur schade um die an sich gewiß nicht uninteressanten Aufnahmen aus Palästina und Ägypten. Aber so bevölkert das übliche Statistenheer den Schauplatz, gruppiert sich malerisch um Golgatha und liegt sanft hingegossen am Ölberg herum. Und die Stars mühen sich krampfhaft, etwas von der Öldruck-Poesie spürbar zu machen, die in der Neuzeit über die Gestalt des Heilandes gegossen worden ist. Statt dem Weltenerlöser sieht man demgemäß den Typ eines Bielefelder Stadtmissionars und die „Mutter Gottes“ weint ihre Glyzerin-Tränen genauso virtuos wie alle andern Kinostars in allen andern Kinostücken […]

Der Film ist so recht der Ausdruck unserer Zeit. Das ganze Jahr blühender Unsinn, Verbrechen, Morde, Erotik und nochmal Erotik, aber dann zum kommenden Weihnachtsfest, weils doch mal immer noch aktuell ist, ein bißchen das Leben und Leiden des Heilandes. Die Nuance darf man nicht missen. Sie paßt so großartig zu der Geschäftsreligiosität der Sonntagsschriften. Schickt eure Jungfrauen- und Jünglingsvereine hinein, es ist eine Geschmacklosigkeit nach eurem Sinne.

1923, 50 M .