Das Bärtchen

— Jg. 1930, Nr. 42 —

Wenn ich an den starken Mann denke, habe ich immer sein Bärtchen vor mir. Es ist kein Bart, mächtig hervorgeschossen im ungestümen Drang des Werdens zum martialischen Schnauz — nein, es ist eine Fliege, die sich nach ungewisser Fahrt auf einer Oberlippe niedergelassen hat. Auf der Oberlippe des werdenden Diktators.

Da klebt es nun, das Bärtchen. Fühlt es sich glücklich? Ist ihm die Schere, die täglich die unkontrollierbaren Zigeunergelüste seiner Bartnatur beschneidet, die Erfüllerin heimlicher Sehnsüchte? Oder möchte es anders sein? Hat es etwa das Bedürfnis, sich zuweilen in Wut prahlerisch zu sträuben, oder träumt es verloren von kokett gezwirbelten Spitzen? Fühlt es sich fehl am Platze? Paßt ihm das Gesicht nicht, in das es da hineingeraten ist? Vielleicht zierte es lieber das modische Oblatengesicht eines Schaufensterdekorateurs, vielleicht daß es sich wahlverwandt fühlt den traurigen Rehaugen Chaplins. Sicher nistet an seinen Wurzeln der Groll, daß der Diktator nicht Maler geblieben ist, geziert mit kleidsamer Lavalliere-Crawatte, der Mund sanft geschwungen in sacharinsüßer Reserviertheit.

Ja, das ist es wohl. Über unserem Bärtchen liegt ganz einfach die dumpfe Melancholie eines ganz und gar verfehlten Daseins. Die hoffnungsvolle Oberlippe seines Lebens ist plötzlich aus ihrer malerischen Reserve herausgerissen und steilt sich wild unter dem Anprall rhetorischer Brandung. Aus dem lnnern des ehemals so sanften Malers grollt es dumpf wie von drohenden Gewittern. Das zarte Bärtchen sieht die idyllischen Träume eines geruhsamen Ziergartendaseins jäh zerrinnen. Angstbeklekkert duckt es sich vor den donnernden Wortkaskaden gegen Juden, Sozi- und PazifistengesindeL Es klebt zerquetscht an der selbstgefällig gewordenen Oberlippe, während Militärkapellen brausend einfallen und paradegewohnte Beine die Erde erzittern machen. Weltgeschichte wird gemacht. Mit den billigen Mitteln, die in Deutschland üblich sind.

Das Bärtchen, gänzlich undeutsch und verdattert bis in die Pigmentzellen der Haare, möchte ganz Fliege sein, um wegfliegen zu können. Aber das ist es nur im Sprachgebrauch. Darum muß es bleiben. Darum ist es wahrscheinlich einmal eine gewichtige Attraktion im Nationalmuseum des dritten Reiches, bewallfahrtet von staunenden Untertanen. Wenn es nicht den keineswegs abwegigen Gedanken in seinem Haargehege nährt, sich selbstmordend von der gehaßten Oberlippe zu tilgen durch die schmerzhaft eiternde Bartfinne, Sykosis vulgaris genannt. Zuzutrauen ist ihm das! Der Diktator sollte es beizeiten abrasieren lassen, ihm zum Heil und dem deutschen Volke zum bleibenden Gedächtnis.

1930, 42 hm