Das deutsche Verbrechen

Klar sieht, wer von ferne sieht;
Nebelhaft, wer Anteil nimmt.

Laotse

[StZ vom 31.12.1946] Professor Friedrich Wilhelm Förster, der bekannte Pädagoge und Pazifist, hatte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ einen Aufsatz über „Moralische Präliminarien des Friedens mit Deutschland“ erscheinen lassen, in dem er die Alliierten davor warnt, Deutschland zu vertrauen und es in den Kreis der Nationen aufzunehmen, ehe es sein Riesenverbrechen wirklich eingesehen und bereut und sich moralisch gebessert habe. Vorläufig sei davon noch nichts zu entdecken. „Wann hat man je gehört, daß ein erbarmungsloser Räuber und seine Komplicen schon ein Jahr nach der Verhaftung und ohne daß auch nur das geringste Zeichen einer Sinnesänderung vorliegt, in allem Ernst eingeladen werden (gemeint ist Churchills Paneuropa-Vorschlag, die Red.), mit seinen Opfern zusammen einen Verein zur Sicherung der öffentlichen Ordnung zu begründen?“

Förster zitiert ein Wort von General Haushofer aus dem Jahr 1941 zu einem amerikanischen Journalisten: „Sie können sicher sein, daß wir im Falle einer Niederlage von der ersten Stunde nach dem Waffenstillstand Tag und Nacht an nichts denken als an die Vorbereitung des nächsten Krieges.“ So denke heute noch die Mehrheit der Deutschen. Die Verbrecher und ihre verblendeten Mitläufer hätten nichts bereut und nichts aufgegeben; sie seien entschlossen, ihren Plan so bald als möglich „mit andern Mitteln und Bundesgenossen“ wieder aufzunehmen.

Darum sei es unbedingt nötig, Deutschland streng zu behandeln, ihm die materiellen und geistigen Grundlagen für einen Angriff zu entziehen, also in erster Linie seine Kriegsindustrie zu vernichten und jede Propaganda für die alte Ordnung zu unterbinden, und keinen der kompromittierten Agenten des alten Deutschlands in Amt und Ehren zu lassen. Alles sei verloren, wenn „die jetzige Praxis weitergeht und die Alliierten um die Wette den Deutschen den Hof machen, selbst wenn es sich um Nazi oder Pangermanisten handelt“.

Hat Professor Förster mit diesem seinem Pessimismus recht oder nicht? Es ist nicht ganz einfach, diese Frage zu beantworten.

Richtig ist, daß die Nazi in Deutschland keineswegs ausgerottet sind; daß ihre Gesinnung namentlich an einigen wichtigen Stellen, in der Wirtschaft, in der Justiz und auf den Universitäten, weiterlebt; daß sie so gut wie unbelehrbar sind und nur für Gewalt Verständnis haben.

Daß die Mehrheit der Deutschen heute schon wieder an die Vorbereitung des nächsten Kriegs denke, ist ohne Zweifel stark über trieben. Aber hat denn die Mehrheit den letzten oder den vorletzten gewollt? Kriege sind bis jetzt immer von Minderheiten gemacht worden. Die Mehrheiten sind ihnen dann gefolgt, und wer sich nicht scheut, der “Wirklichkeit ins Auge zu sehen, der wird zugeben, daß auch heute eine Mehrheit des deutschen Volkes nicht imstande wäre, einen Krieg zu verhindern, den anzufangen eine Minderheit mächtig genug wäre; auch wenn es diese Mehrheit heute weit von sich weisen wird, daß sie einen Krieg wünsche oder mit einem solchen rechne.

Die große politische Aufgabe der alliierten Mächte besteht darin, einen neuen Krieg zu verhindern, auf den heute die nazistischen Elemente in Deutschland wieder hoffen mögen. Die Voraussetzung dafür ist, daß die Alliierten unter sich einig sind; daß es ihnen gelingt, die zwischen ihnen vorhandenen Interessengegensätze, mit denen der geschlagene Nazismus rechnen zu dürfen glaubt, auch weiterhin friedlich auszugleichen. Damit würde diesem der Wind aus den Segeln genommen; von sich aus kann er ja keinen Krieg mehr an fangen, solange Deutschland von den alliierten Mächten besetzt ist. Er würde dann vielleicht zwar nicht von heute auf morgen, aber doch im Laufe der Zeit langsam absterben, weil ihm sozusagen der Boden entzogen würde, aus dem er Nahrung saugen kann.

Ob Herr Förster mit seiner moralisierenden Betrachtungsweise und mit seinem pädagogischen Rezept der Strenge auf dem richtigen Wege ist, bleibe dahingestellt. Den Nationalismus mit negativem Vorzeichen, zu dem ihn seine Haltung verführt, halten wir für ebenso verfehlt wie den positiven. Der alte Abraham, derSodom und Gomorrha retten wollte, auch wenn er nur fünf Gerechte in seinen Mauern gehabt hätte, war vermutlich nicht bloß etwas menschen freundlicher, sondern auch ein besserer Politiker.

Wir büßen heute alle für das, was die Nazi gefrevelt haben. Das ist in der Ordnung. Aber trotzdem wollen wir uns nicht insgesamt mit den Nazi in einen Topf werfen lassen, wie Förster es tut; und Moralpredigten wirken nicht so unbedingt erzieherisch, wie der be rühmte Pädagoge anzunehmen scheint. Es könnte sein, daß allzu große kollektive Strenge in der Behandlung eines geschlagenen Volkes das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorriefe: vermehrten Nationalismus, weiterschwelenden Nazismus.

Es wäre also vielleicht besser gewesen, wenn Herr Förster, etwas weniger alttestamentlich, auch ein paar milde Tone gefunden und den Alliierten geraten hätte, zwar die militanten Nazi in Deutschland mit Skorpionen statt mit Ruten zu züchtigen, aber gnädig zu sein gegen die bloßen Mitläufer und die vielen anderen, deren Schuld lediglich darin besteht, daß sie noch leben.

„Hat nicht die deutsche Nation“, schreibt Förster, „ein kollektives Riesenverbrechen begangen, das ohnegleichen in der ganzen Geschichte der Menschheit ist?“ Gewiß, es war ein Riesenverbrechen, das geschehen ist; fast so groß wie das eines Dschingis Khan oder Tamerlan. Aber darf man sagen, die „deutsche Nation“ habe es begangen, von der Tausende und Abertausende behaupten und beweisen können, daß es nicht von, sondern an ihnen begangen worden ist?

Stuttgarter Zeitung, 31. 12. 1946