Das Land der Mitte

— Jg. 1926, Nr. 16 —

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich während des Kriegs lange an die offizielle Legende über seinen Ausbruch geglaubt habe: Deutschland sei von seinen Feinden überfallen worden. Ich konnte mir nämlich einfach nicht vorstellen, daß ein so „eingekreistes“ Land Händel mit seinen Umliegern provoziert habe. Etwas so Unvernünftiges schien mir nicht wahrscheinlich. Erst als später die Akten über den Kriegsausbruch veröffentlicht wurden, gingen mir die Augen auf. Darüber, daß es in der hohen Politik nichts so Verkehrtes, Dummes und scheinbar Unmögliches gibt, das nicht geschehen könnte. Und seither habe ich sogar noch ein Weiteres dazugelernt: daß es Politiker gibt, vor denen das Sprichwort, daß Schaden klug mache, zuschanden wird. Daß kein Fehler groß genug ist, als daß er nicht von denen, die ihn begangen haben, wiederholt werden könnte. Daß vielmehr nach einem Worte Wolfgang Pfleiderers gerade die entscheidenden Dummheiten immer wieder gemacht werden.

Wenn man gelesen hat, was nach dem Genfer Mißerfolg auf der sogenannten „nationalen“ Seite in Deutschland über den Völkerbund und Deutschlands Verhältnis zu ihm verzapft worden ist, dann hat man eine neue Bestätigung für diese Lebensweisheit. Es gibt wahrhaftig in Deutschland immer noch Leute, ernsthafte Leute, die nicht zu wissen scheinen, wo sie sich befinden. Daß unser Land immer noch den gleichen Erdenfleck bildet, ohne „natürliche“ Grenzen, mitten drin in dem Kleinstaaten-Komplex Europa, der selber heute nicht viel mehr ist als ein Puffer zwischen Asien und Amerika. Wir sind und bleiben „eingekreist“, von zwar nicht mehr feindlichen, aber andersartigen Mächten umgeben, ein richtiges „Land der Mitte“. Es ist wahrhaftig kein Zufall, daß Deutschland Jahrhunderte lang der europäische Kriegsschauplatz gewesen ist. Soll es vielleicht auch noch einmal der Weltkriegsschauplatz werden, auf dem Westen und Osten, England und Rußland, Amerika und Asien, Kapitalismus und Sozialismus ihre Entscheidungsschlachten schlagen?

Wer sein deutsches Land liebt, wer sein deutsches Volkstum kennt, kann das nicht wünschen. Er wird vielmehr die durch Natur und nationale Eigenart bestimmte Aufgabe Deutschlands darin erblicken müssen, zwischen den Gegensätzen, in die es eingekeilt ist, und die sich in ihm selber vermischen, zu vermitteln. Die Synthese zwischen Osten und Westen, alter und neuer Welt, zu finden und zu bilden. Es wäre ebenso falsch und einseitig, wenn wir uns östlich wie wenn wir uns westlich „orientieren“ wollten, denn die Scheidelinie geht mitten durch uns selber hindurch. Wer in der Mitte liegt, kann nur einen Beruf haben: den des Mittlers.

Damit ist für unsere ganze Politik, die äußere und, so merkwürdig es vielleicht klingt, auch in gewissem Sinne für die innere, die klare Linie vorgezeichnet. Wir haben im Innern von Amerika und von Rußland zu lernen, und brauchen weder die amerikanischen noch die russischen Fehler nachzumachen. Und bei allen außenpolitischen Auseinandersetzungen auf der Welt ist die einzig vernünftige und angemessene Haltung Deutschlands die pazifistische: einer absoluten Neutralität.

Daß diese nicht immer leicht sein wird, versteht sich. Aber um so reizvoller und dankbarer, dächte ich, müßte die Aufgabe für Staatsmänner sein; und ihre Ausführung bedeutet keineswegs Passivität und Verzicht. Es sei denn Verzicht auf großspuriges Auftreten, Maulheldentum, Säbelgerassel und derartige Geräusche gewisser Größen von gestern, die hoffentlich bald von vorgestern und nicht, wie sie sich träumen, wieder diejenigen von morgen sein werden.

1926, 16 Sch.