Der Moloch

Vom Zehnmilliardenetat der deutschen Republik für 1929 nimmt der Wehretat rund 700 Millionen Mark in Anspruch; davon sind 200 Millionen für die Marine. Wenn man weiß, wie dieser Wehretat zustandekommt, dann weiß man auch, daß ohne jede nähere Untersuchung hundert Millionen bei der Marine und hundert beim Landheer gestrichen werden könnten, ohne daß darum ein Mann entlassen zu werden brauchte oder der Wert unserer militärischen Rüstung Not litte.

Aber diese 700 Millionen sind noch lange nicht unsere gesamten Rüstungskosten. Es wäre eine Arbeit für Wochen, diese zusammenzutragen und zu den gesamten öffentlichen Ausgaben in Deutschland, die sich, vorsichtig geschätzt, auf 15 Milliarden belaufen mögen, ins Verhältnis zu setzen. Versuchen wir, in ganz groben Umrissen einen Begriff davon zu geben.

Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Reichswehr es verstanden hat, einen erklecklichen Teil ihrer Ausgaben für Kasernenbauten, Exerzierplätze und dgl. auf die Gemeinden abzuschieben, die sich ja darum raufen, eine Garnison zu bekommen. Das „Andere Deutschland“ hat in seiner letzten Nummer allein aus Schlesien sechs Städte aufgeführt, die zusammen über 6 Millionen Mark für Kasernenbauten ausgegeben haben.

Zweitens sind eine Reihe von Ausgabeposten als „unsichtbare“ Rüstungsausgaben anzusprechen, die gar nicht im Etat des Reichswehrministeriums, sondern in anderen Abschnitten des Gesamthaushaltsplans enthalten sind, vor allem in dem Etat des Verkehrsministeriums. Hieher gehören die Subventionen für das Luftfahrwesen und die Beihilfen für Firmen, die als Kriegsmaterialerzeuger in Betracht kommen.

Drittens sind die Ausgaben für die staatliche Polizei, ebenfalls rund 700 Millionen, zu denen das Reich den Ländern Zuschüsse in Höhe von 200 Millionen Mark beisteuert, zwar nicht gerade durchweg, aber zu einem großen Teil Rüstungsausgaben. Denn die staatliche Polizei ist in ihrem heutigen Umfang und Wesen auch eine Art Militär, obwohl sie nur zu inneren Zwecken bestimmt ist. Wenn sie sich nicht selber als solches fühlen würde, wie hätte sie dann die ehrenvolle Aufgabe übernehmen können, in ihren einzelnen Landesabteilungen die „Tradition“ der ehemaligen deutschen Kolonialarmee zu pflegen? (Die württembergische Schutzpolizei z. B. ist Traditionstruppenteil der Südseeschutztruppe; für uns Eingeborene immer ein merkwürdiges, wenig ehrenvolles Bewußtsein.)

Taxieren wir alle diese Rüstungskosten, die nicht im Reichswehretat stehen, zusammen auf 400 Millionen, so wissen wir, daß wir deutsches Volk jährlich über eine Milliarde Mark aufbringen, um den nächsten Krieg vorzubereiten.

Dabei ist der letzte bekanntlich noch nicht ganz abgezahlt. Die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen kostet im Etatsjahr 1929 etwa anderthalb Milliarden; die Kriegsentschädigung zweieinhalb Milliarden (davon über den Reichsetat anderthalb, eine weitere zahlen wir über die Industrie- und die Eisenbahnobligationen).

Es gibt ein Sprichwort: Schaden macht klug, oder: Gebrannte Kinder fürchten das Feuer.

Solche Weisheiten gelten aber, ähnlich wie die Lehren des Christentums, nur im Privatleben.

Vielmehr: nicht einmal da.

1929, 16 Sch.

Siehe hierzu auch den Artikel von Michael Berger in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24.08.2014: https://www.nzz.ch/international/europa/ein-geheimplan-fuer-den-zweiten-weltkrieg-1.18368619