Deutsches Erwachen

— Jg. 1933, Nr. 1 —

Ich habe es ja immer schon gesagt (aber hört denn jemand auf einen alten Mann?). Und nun ist’s so weit: Deutschland befindet sich im Zustand des Erwachens. Nicht auszusagendes Erlebnis!

Man hätte es vorhersehen sollen. Diese beständigen herausfordernden Rufe (vereinzelt und im Chor), Deutschland möge erwachen, waren einfach ein Spiel mit dem Feuer. Denn wie leicht können solche frivolen Aufforderungen ernst genommen werden! Wie leicht konnte Deutschland wirklich erwachen! (Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, pflegte meine Großmutter in derartigen Fällen zu äußern, was für eine kluge Frau, ich sehe sie noch wie heute vor mir!).

Und jetzt haben wir also die Bescherung. Die hartnäckigen Weckrufe unserer Nationalisten sind von Erfolg gewesen. Überall regt es sich bei uns, und überall hat man infolgedessen nun Gelegenheit, sich zu fragen, ob es bei Völkern denn nicht so ähnlich sei, wie es von einzelnen Menschen behauptet wird: daß sie nämlich im Schlafen besser wirken als im Wachen.

Der Intellekt erwacht offenbar am spätesten. Wenigstens hat man diesen Eindruck, wenn man sieht, was für Eigenschaften bisher in diesem Volk erwacht sind. Daß es nicht die besten sind, daran läßt sich kaum zweifeln.

Oder soll man es etwa begrüßen, daß Wahlkämpfe heut bei uns nicht mehr Kämpfe sind, die mit Hilfe der Wahlstimmen ausgefochten werden, sondern solche, bei denen die natürliche Stimme (womöglich noch verstärkt durch Mikrophon und Megaphon) sowie Zaunlatten, Stuhlbeine, Biergläser eine Rolle spielen? Ich kann es nicht finden.

Auch das Bombenwerfen auf Personen gegnerischer Richtung will mir nicht gefallen. Denn es scheint mir immerhin ein Zeichen mangelhafter Selbstbeherrschung. […]

Und auch vom Theater und Kino muß man dabei sagen, daß sie mit Vorliebe jetzt als Demonstrationsschauplätze für das heilige Sehnen des Volkes der Dichter und Denker verwandt werden. Trompeten, Pfeifen, Trommeln, Stinkbomben, Niespulver und ähnliche Unentbehrlichkeiten der erwachenden deutschen Seele steckt man sich zum Besuch des Kinos oder Theaters ein, wie man sich früher wohl Bonbons oder Schokolade einsteckte. Hätte sie doch weiter geschlummert, die deutsche Seele!

Man sagt mir jedoch, daß es auf deutschen Universitäten zum Teil noch wacher zugehe als in den Kinos und den Theatern. Ich kann es kaum glauben, aber es wird mir von so vielen Seiten berichtet, daß ich meine Zweifel zurückstellen muß. Manche Professoren, so wird behauptet, erleben bei ihren Vorlesungen jetzt mitten im Semester Besuchsziffern, die früher nur zu Anfang des Semesters üblich waren. Und sie sind mitnichten erfreut darüber. Denn was die neu auftauchenden Besucher zu ihnen hinzieht, ist weniger der Wissensdurst (den sie in der Regel anderswo zu befriedigen suchen) als vielmehr der Drang, dem betreffenden Dozenten eine Probe der neu erwachten deutschen Geistigkeit in Form von Füßescharren, Sprechchören, Schimpfattacken, Musikdarbietungen und eingeschlagenen Türfüllungen zu geben. So pflegte man zu meiner Zeit (als Deutschland noch schlief) nicht zu studieren.

In den gleichen Zusammenhang aber gehört es augenscheinlich, daß man auch die Schulen heut wachzurütteln sucht, nicht zum Zweck intensiver Arbeit etwa, wie der Harmlose annehmen möchte, sondern zum Zweck einer in bestimmter Richtung hin erfolgenden Politisierung. Glaubwürdigen Zeitungsnachrichten zufolge sollen sogar Volksbildungsminister sich in diesem Sinne bestätigen und dem Vernehmen nach auch schon beachtenswerte Erfolge erzielt haben. Von einem offenbar besonders aufgeweckten deutschen Lande weiß ich, daß die Schüler in ihm beispielsweise nationalsozialistischen Vereinigungen angehören dürfen, daß sie bis zu den Sextanern herab zu nationalsozialistischen Massenkundgebungen Urlaub erhalten müssen, daß sie bestialischen Meuchelmördern, wenn sie der gleichen Partei angehören, Telegramme schicken dürfen, in denen sie ihnen versichern, sie seien stolz auf sie, daß sie zu wöchentlichen Sprechchor-Gelöbnissen angehalten werden, die sich gegen die Erfinder des inzwischen allerdings mehrfach revidierten Versailler Vertrages richten. Provokationen und Bespitzelungen der Lehrer sowie Denunziationen aller Art — sei es in Form von Versammlungsberichten, Eingesandtem oder geheimen Anzeigen — sind; wie ich höre, nichts Seltenes mehr. Hakenkreuze schmücken nicht nur die Schulaborte — wo man sie ja allenfalls noch gelten lassen könnte —, sondern auch Bänke und Bücher. Kurzum: für die Auswirkungen des deutschen Erwachens hat sich hier ein weites, weites Feld eröffnet.

Noch einmal: ich habe es vorhergesagt. So ungefähr mußte es kommen, wenn man die deutsche Seele mutwillig weckte. Es konnte kein gutes Ende damit nehmen. Und was tun wir nun? Genügt es auf die Dauer, sich die Nase zuzuhalten? Oder sollen wir uns gar an die neue Atmosphäre zu gewöhnen versuchen, die jenes Erwachen um uns verbreitet hat?

Ich fürchte, ich fürchte, daß das überhaupt keine Frage ist, die von uns selber beantwortet werden wird. Wenn in einer Wohnung andauernd faule Fische gekocht werden, dann pflegen sich für gewöhnlich die übrigen Hausbewohner einzumengen, soweit sie noch empfindliche Nasen haben. Und viel anders, denke ich, wird es wohl auch bei den Erzeugnissen der heutigen deutschen Küche nicht werden.

1933, 1 Heinrich Kuhn