Die Nationalsozialisten

Hitlerputsch November 1923 in München

— Jg. 1923, Nr. 19 —

[…] Über „Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ spricht in einer programmatischen Broschüre der Hauptschriftleiter Alfred Rosenberg des „Völkischen Beobachters“. Das Programm an sich ist in mehr als einer Beziehung sehr interessant. Es verlangt Selbstbestimmungsrecht und Gleichberechtigung der Völker, gerade so wie Sozialisten und Pazifisten – Hitler aber predigt innen- und außenpolitische Gewalt und Dr. Dinter appelliert mit Theaterpose ans „Schwert“. Es verlangt Verstaatlichung der Trusts, Kommunalisierung der Großwarenhäuser – sollen damit Sozialisten gefischt werden? Ist die Forderung auf Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens eine nationalsozialistische Erfindung? Oder die nach Kolonien, nach Bodenreform? Todesstrafe für Wucherer und Schieber, Erfassung der Kriegsgewinne, Aufhebung des Friedensvertrages usw. Diese „Forderungen“ blenden für einen Augenblick die urteilslose Masse. Wege zu diesen Zielen zeigt Hitler nie. Das ganze Programm ist Täuschung und Trug, um die Massen für die eigentlichen „Ziele“ einzufangen. Und diese sind: plumper Antisemitismus und Revanchekrieg. Darüber läßt Herr Hitler keinen Zweifel. Wer ihn in seinen Versammlungen reden hört, gibt sich darüber keinen Täuschungen hin. Schlagt die Juden und Franzosen tot! So heißt das Evangelium dieser beschränktesten aller Nationalisten. Und sie verstehen es vortrefflich, dafür Stimmung zu machen. Leider sind Juden sowohl wie Franzosen den nationalsozialistischen Fäusten unerreichbar, und solange dienen die Judenknechte und Franzosenfreunde, die sich Sozialisten nennen, als Prügelknaben…

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An einem Freitag morgen kam ich nach München. Ich erwartete nach den mir zugegangeneo Berichten zum mindesten auf der Brust jedes zweiten Müncheners ein stattliches Hakenkreuz. Ich wurde enttäuscht. Den ganzen Tag über sah ich nur zweimal dieses mißbrauchte Zeichen, beide Male am Hals junger Damen. Abends fand eine der Hitlerschen Massenversammlungen im Zirkus Krone statt. Schon zwei Stunden vor Beginn sammelten sich die Hundertschaften auf dem Marsfeld. Hitler verfügt über etwa 30 Hundertschaften, von denen allerdings nur wenige die Zahl hundert erreichen. Sie setzen sich zum größten Teile aus jugendlichen Arbeitern und Angestellten zusammen, denen das Soldatenspielen Freude macht. Mit einem Stahlhelm auf dem Kopfe oder einer grauen Skimütze mit schwarz-weiß-roter Kokarde, einem roten Armband mit einem schwarzen Hakenkreuz im weißen Felde kommt man sich auch zu interessant vor. Und erst alle die geheimnisvollen Befehle und Andeutungen der Vorgesetzten! „Heute und morgen erhöhte Alarmbereitschaft!“ Wem sollte da nicht die Brust voller Stolz schwellen? Und wenn man des Abends im Hofbräukeller bei seiner „Moaß“ sitzt und vor den Ohren des friedlichen Bürgers mit den Kraftausdrücken des großen Meisters um sich wirft, wer sollte da nicht selbstbewußt werden? Der Bayer lebt von der Opposition um jeden Preis […]

Herr Hitler ist der Typ des Demagogen, wie ihn Mommsen (Röm. Geschichte, Bd. 5, S. 717) in der Person des Apion treffend schildert:

„Vor dem Kaiser Caligula erschien die Deputation der Judenfeinde, geführt von Apion, auch einem alexandrinischen Gelehrten, der ,Weltschelle‘, wie Kaiser Tiberius ihn nannte, voll großer Worte und noch größerer Lügen, von dreistester Allwissenheit und unbedingtestem Glauben an sich selbst, wenn nicht der Menschen, doch ihrer Nichtswürdigkeit kundig, ein gefeierter Meister der Rede wie der Volksverführung, schlagfertig, witzig, unverschämt und unbedingt loyal.“

Wort für Wort trifft auf Hitler zu. In der ersten Massenveranstaltung sagte er als Motto: „Ich werde nun nacheinander acht Massenveranstaltungen halten, und wenn so fortgesetzt Öl ins Feuer gegossen wird, müßte ein Wunder geschehen, wenn es nicht zur Explosion kommt“. Er hat sein Wort gehalten. Er appelliert an die niedrigsten Instinkte der Massen. Seine Beredsamkeit ersetzt den fehlenden Inhalt durch ihre schillernde Form. Er wird es zur Explosion bringen, die ihn aber selbst hinwegfegen wird.

Der deutsche Staatsbürger aber schläft. Schallt es einmal allzulaut aus München herüber, ruft er nach den Gesetzen zum Schutz der Republik, nach Vereins- und Zeitungsverboten. Von solchen Zwangsmaßnahmen das Heil zu erwarten, zeugt von einer geradezu einzigartigen Unkenntnis politischer und psychologischer Grundtatsachen. Alles Verbotene reizt nicht nur den Knaben, auch den Erwachsenen. Mit dem Sozialistengesetz hat man nur den Sozialisten genützt. Und Herr Hitler quittiert jeden überflüssigen Zwang äußerlich mit Protestgeschrei, im Innern aber dankbar lächelnd. Es gibt nur ein Mittel gegen die nationalsozialistische Geistlosigkeit: ihr positiven republikanisch-sozialistischen Geist entgegenzusetzen, der sehr wohl imstande ist, die Jugend zu begeistern, und der allein eine sichere Entwicklung des Ganzen gewährleistet. Wird dieser Geist in unserem Volke stark, dann brauchen wir keine nationalsozialistischen Explosionen zu befürchten. Sie bleiben dann nur ein ohnmächtiges Feuerwerk von kurzer Dauer. Große Kreise der „republikanischen“ Bevölkerung sind aus Bequemlichkeit und Trägheit republikanisch. Wachen sie nicht bald auf, dann blüht Herrn Hitlers Geschäft; und Herr Hitler wird dann mit recht temperamentvollen Fußtritten die aufwecken, die heute noch schlafen…

1923,19

Walter Ostermann