Die „Unschuldigen“

Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg, 1910

— Jg. 1927, Nr. 26 —

Als vor einigen Monaten die letzten Bände des Werkes „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914“ erschienen, haben die Streiter gegen die „Schuldlüge“ dem deutschen Volke großes Heil verkündet. Da stünde sie drin, die Unschuld Deutschlands! (Sie reden immer von Deutschland, wenn sie Wilhelm meinen.) Die Herrschaften haben sich aber gehütet, die Aktenstücke näher zu bezeichnen, die die Unschuld Wilhelms beweisen sollen. Sie haben wohl gewußt, warum. Solche gibt es nämlich gar nicht. Dagegen finden sich in der „großen Politik“ zahlreiche Dokumente, die Wilhelm und seine Handlanger schwer belasten.

Am 20. Dezember 1912 hat Fürst Lichnowsky aus London an Bethmann geschrieben (Aktenstücke Nr. 12561): „Man achtet uns hier, man schätzt, man überschätzt uns vielleicht, und aus diesem Gefühle, das man mitunter geneigt wäre, Furcht zu nennen, geht das Bestreben hervor, uns einzuengen, nicht aber die Lust, uns zu bekriegen. Dazu sind die gemeinsamen Interessen zu groß, die wirtschaftlichen Verbindungen zu eng und zu bedeutend, die materiellen Verluste selbst eines siegreichen Krieges zu empfindlich. Dazu ist man hier auch zu bequem geworden, das Volk ist friedliebend und liebt es, in seinen täglichen Gewohnheiten nicht gestört zu werden. Ein Krieg mit uns wäre daher durchaus nicht populär, er würde aber trotzdem geführt werden, um Frankreich, falls wir es bedrohten, zu schützen. Denn man glaubt hier, daß es nicht in der Lage wäre, sich ohne britische Hilfe der deutschen Übermacht zu erwehren.“

Am 7. März 1914 hat Lichnowsky nochmals berichtet (Nr. 14700): „Die ungeschmälerte Erhaltung Frankreichs gilt den Engländern ebensosehr als eine politische Notwendigkeit wie uns die Erhaltung Österreich-Ungarns, und sie würden daher, wie ich nochmals hervorheben möchte, in einem Krieg zwischen uns und Frankreich unter allen Umständen ihre schützende Hand über letzteres halten.“

Soviel zu den deutsch-englischen Beziehungen. Nun zu den deutsch-französischen. Am 30. November 1912 hat der deutsche Botschafter in Paris, Freiherr v. Schön, an Bethmann geschrieben (Nr. 12471): „Die Befriedigung, mit der hier die Nachrichten über die anscheinende Entspannung der internationalen Lage aufgenommen werden, läßt wiederum erkennen, daß die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Meinung nichts sehnlicher wünscht, als daß Frankreich vor kriegerischen Verwicklungen bewahrt bleiben möge.“ Und der Bericht schließt mit den Worten: „Ohne die Rechtfertigung eines Frankreich drohenden deutschen Angriffs würden, das möchte ich bestimmt annehmen, weder Poincaré noch Millerand noch Delcasse angesichts der einem Krieg durchaus ungünstigen Stimmung der Mehrheit der Kammer und des Volkes es niemals wagen, das Land vor eine vollendete Tatsache zu stellen.“

Am 4. Dezember 1912 hat Lichnowsky folgende Äußerungen Greys nach Berlin berichtet (Nr. 12481): „Entstände aber ein europäischer Krieg dadurch, daß Österreich gegen Serbien vorginge und Rußland, durch die öffentliche Meinung gezwungen, und um nicht abermals eine Demütigung wie 1909 zu erleben, in Galizien einmarschierte, was uns (Deutschland) zur Hilfeleistung veranlassen würde, so sei die Beteiligung Frankreichs unausbleiblich und die weiteren Folgen unabsehbar.“

Wie war das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland? Am 6. Februar 1913 hat der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf von Pourtales, nach Berlin gemeldet (Nr. 12805): „Ich bleibe dabei, daß der Kaiser [Zar Nikolaus II.], Sassonow und Kokowzow „pour tant et tant de raisons“ (aus so und so viel Gründen) . . . den Krieg nicht wollen und alles tun werden, ihn zu vermeiden. Ich möchte aber bestimmt annehmen . . ., daß im Falle eines Vorgehens Österreichs gegen Serbien die zwar verhältnismäßig kleine, aber mächtige und sehr rührige Gruppe der panslawistischen Hetzer die ganze öffentliche Meinung mit sich fortreißen und die jetzigen Leiter der Regierung verdrängen würden und daß dann der Krieg zum mindesten sehr wahrscheinlich werden würde.“

Am 17. Juni 1914 hat der deutsche Gesandte in Bukarest v. Waldhausen folgende Äußerung Sassonows zu dem rumänischen Ministerpräsidenten Bratianu nach Berlin berichtet (Nr. 15833): Sassonow habe mehrfach versichert, „daß Rußland die friedlichste Politik verfolge. Auch gegenüber Österreich habe er friedliche Absichten, doch könne er unter keinem Vorwand einen österreichischen Angriff auf Serbien zulassen“.

Noch ein Dutzend solcher Zitate stehen zur Verfügung. Sie sagen alle das Gleiche: England wollte den Frieden, aber mit dem Vorbehalt: Frankreich darf nicht angegriffen werden. Frankreich wollte den Frieden, aber Rußland darf nicht angegriffen werden. Rußland wollte den Frieden, aber Serbien darf nicht angegriffen werden.

So waren Wilhelm und die Bethmänner durch ihre eigenen Botschafter und Gesandten informiert, so waren sie gewarnt, als sie im Juli 1914 die Österreicher unermüdlich in den Krieg mit Serbien drängten und trieben. Nach dieser Kriegserklärung nahm das Verhängnis geradezu programmäßig seinen Lauf: der Krieg mit Serbien provozierte den Krieg mit Rußland, der Krieg mit Rußland verursachte den Krieg mit Frankreich und der Krieg mit Frankreich den Krieg mit England.

Also: dadurch, daß sie die Österreicher in den Krieg mit Serbien hetzten, haben Wilhelm und seine Bethmänner Europa in Brand gesteckt. Sie sind die Schuldigen, die Alleinschuldigen. Das ist’s, was „Die große Politik der europäischen Kabinette“ beweist.

1927, 26 Emel