Fantasien eines Ochsen

— Jg. 1925, Nr. 4 —

In den großen Schlächtereien von Chicago werden täglich viele Tausend Ochsen und Schweine geschlachtet. Der Betrieb ist so großartig organisiert, daß man fast sagen kann: am einen Ende werden die lebenden Tiere hineingetrieben und am andern kommen die fertigen Würste, Schinken und Stiefel heraus. Die Ochsen werden in einem großen Kral zusammengetrieben und von dort durch einen langen Doppelzaun in das Schlachthaus.

Es zeigte sich nun, daß die Tiere, wenn sie das Blut ihrer geschlachteten Brüder witterten, sehr schwer vorwärts zu treiben waren. Es mußten dazu zahlreiche hochentlohnte Viehtreiber angestellt werden. Die Amerikaner dressierten deshalb einen alten Leitochsen, die Herde ins Schlachthaus zu führen. Für ihn öffnete sich neben der Tür des Schlachthauses ein behaglicher Stall, in dem er weiche Streu und gutes Futter fand. Der amerikanische Volksmund hat diesen Ochsen „Judas“ getauft.

Eines Abends, als Judas bereits in den Kral getrieben war, entstand im Schlachthaus eine Betriebsstörung. Die Schlachtung mußte unterbrochen werden. Die Nacht sank über Chicago, und Judas schlenderte von Gruppe zu Gruppe seiner Kameraden. Die meisten dösten dahin, wie Ochsen zu dösen pflegen; nur in einer Gruppe debattierte man lebhaft.

Ein junger, nur mäßig genährter Ochse sprach: „Wir sollten gegen das Schlachten gewaltsam vorgehen. Wenn wir mit vereinten Kräften gegen den Zaun rennen, dann werden wir die Freiheit gewinnen. Das Land hier gehört ohnehin uns und nicht den Menschen. Unsere Voreltern streiften hier als freie Büffel und nährten sich von dem schmackhaften Steppengras.“

„Sehr schön“, antwortete ein anderer, „das würde uns aber nichts nützen, denn hier in der Gegend wächst längst kein Gras mehr; wir würden verhungern oder von Verkehrsmaschinen zermalmt werden; außerdem schmeckt das Kunstfutter, das man uns reicht, ja viel besser als das langweilige Gras.“

„Das aber immer noch besser als das Schlachtbeil“, fiel ein Dritter ihm ins Wort. Und dann ein Vierter: „Gewiß, Spaß macht es nicht, geschlachtet zu werden; aber das hilft ja alles nichts, man hat immer Ochsen geschlachtet, man wird weiter Ochsen schlachten, darum hat es gar keinen Zweck, daß wir uns dagegen sträuben.“

„Sehr richtig“, fiel ein Fünfter ein, „außerdem ist die Sache glänzend organisiert. Die Maschinen sind technisch vollendet, bereiten kaum mehr Schmerz, und schließlich ist es doch eine große Ehre für einen einfachen Ochsen, als Hauptstück auf der Tafel eines wahren Menschen- und Tierfreundes zu stehen.“

Als Judas sich dies Gespräch ein wenig angehört hatte, wurde er nachdenklich. Wenn der erste Redner etwa seine Gewaltpläne unter die anderen Ochsen trüge, könnte es sein, daß man ihn, den braven Leitochsen, als ungeeignet selbst zum Schlachthaus triebe, und dann ade, schöner warmer Stall und schmackhaftes Futter.

Darum winkte er die beiden letzten Redner zu sich und schlug ihnen vor, ein Nachrichtenbüro für Ochsen und eine Tageszeitung zu gründen; für die Finanzierung würde die Schlachthofdirektion sicher sorgen.

Als die Sonne blutrot über dem Michigansee emporstieg, war drinnen die Betriebsstörung behoben; und als der Aufseher nach Judas rief und mit der Futterkiepe klapperte, da trollte Judas schleunigst fürbaß und brüllte dazu, wie Ochsen zu brüllen pflegen, wenn ihnen gutes Futter winkt.

Die anderen Ochsen aber trollten hinterher, — sogar der, der eigentlich gewaltsam ausbrechen wollte. Denn schließlich wollte er von den anderen nicht für einen Renegaten gehalten werden. Das war nämlich damals der schlimmste Vorwurf, den man einem Ochsen machen konnte.

1925, 4 Paul von Schoenaich