Gedenkblatt für Erich Schairer

Erich Schairer (21.10.1887-3.8.1956)

Es sind nun schon mehr als elf Jahre, daß wir Erich Schairer auf dem Stuttgarter Waldfriedhof das letzte Geleit gaben. Unser Kreis alter Blaubeurer Seminaristen aus den Jahren 1903/05 ist seitdem kleiner geworden, so klein, daß man sich fast nicht mehr getraut, ihn zusammenzurufen. Wir waren ja so froh, daß wir Erich Schairer nach dem zweiten Weltkrieg wieder in unserer Mitte hatten, so oft wir zusammenkamen. Wenn sich alte Jugendfreunde treffen, heißt es: „Alte Liebe rostet nicht“, und wenn wir auch durch Jahrzehnte getrennte Wege gegangen sind, das Leben führte uns doch immer wieder zusammen, manchmal unter höchst seltsamen, ja erschütternden Umständen. Seine Freundestreue habe ich besonders im Winter 1903/04 erfahren, als ich mir beim Schlittenfahren auf der Sonderbucher Steige den Fuß verstaucht hatte, so daß ich acht Wochen lang im Gipsverband liegen mußte. Er hat mich damals auf der Krankenstube des Seminars so treulich versorgt wie kein anderer, und ich sehe noch heute, wie er meinen Nachtstuhl, wenn auch mit leicht gerümpfter Nase, zur Stube hinaustrug. Dafür haben wir dann auch die Kuchen, die mir meine Mutter sandte, miteinander verzehrt nach dem Rezept, das er einmal in die Verse gefaßt hatte: „Da kommt ein Kuchen, süß und groß, er (der Seminarist) glaubt sich schon in Abrahams Schoß, doch zeigt sich ihm zu großem Leid, gleich das Gesetz der Teilbarkeit. Mit dem Messer und in Eile, macht er viele, viele Teile. Und am Schluß ist es noch viel, wenn ihm bleibt ein Molekül.“ — Später hat Erich die Verse durchgestrichen; so war er immer: Teilen, helfen, ja — aber nicht damit angeben wollen. Gutes tun, ja — aber in aller Stille.

Aber ich greife vor. Was uns damals gemeinsam begeisterte, war die Liebe zu unseren Dichtern Eduard Mörike, Gottfried Keller und anderen. Vielleicht hatte ich ihm damals noch etwas an Kenntnissen voraus, von meinem literarischen Elternhaus her, aber was ihn an Mörike anzog, das war das Klare und Echte, die unverfälschte Schönheit seiner Dichtung. Als wir nach dem ersten Weltkrieg uns wiedertrafen — am 21. Mai 1919 — war er zu Fuß von Heilbronn zu uns nach Neuenstadt am Kocher gekommen und wir gaben ihm auf dem Rückweg das Geleit nach Cleversulzbach. Am Grab der Dichtermutter entzündete sich aufs neue unsere Freundschaft. Oft habe ich mich gefragt, warum Erich Schairer schriftstellerisch nicht mehr hervorgetreten ist. Er hatte doch das Zeug dazu. Noch heute lese ich mit Entzücken seine geistvolle „Mathematische Romanze“, die er für unsere Weihnachtskneipzeitung 1903 beisteuerte. Keiner von uns hatte je etwas so witziges, einfallreiches, trockene mathematische Begriffe spielerisch Umkreisendes geschrieben. Aber seine Zukunft war der Journalismus, und sein Ehrgeiz, ein gutes, klares Deutsch zu schreiben und, wenn es sein mußte, auch andere dazu zu erziehen. (Siehe „Fünf Minuten Deutsch“! Kein Wunder, der echte und gediegene Schulmeister steckte ihm vom Vater her im Blut!)

Einmal habe ich seine kritische Ader zu meinem Heil selbst zu spüren bekommen. Ich schrieb ihm damals auf seinen Wunsch für seine „Sonntagszeitung“ kleine Geschichten, Begebnisse, wie sie im Leben des Pfarrers immer wieder vorkommen. In einem Brief vom 20. Juli 1920 — ich besitze ihn heute noch — schrieb er mir: „Dies mal bekommst Du Deine Geschichte zurück. Redaktionen pflegen bei Ablehnung von Manuskripten keine Gründe anzugeben, weil die Verfasser dann meist beleidigt sind. Auch Dir gegenüber hätte ich mich gern mündlich über das „Vogelnest“ geäußert, denn wenn ich meine Kritik schreibe, kommt sie natürlich wüst und herzlos heraus. Aber wer weiß, wann ich wieder einmal hinüberkomme… (Folgt eine eingehende Kritik.) Zum Schluß schreibt er: „Nun, sei mir bitte nicht böse. Betrachte diese absichtlich scharfe Kritik als einen Beweis, daß ich Dich ernst nehme. Sage auch Deiner lieben Frau, sie möge mir jetzt ihr Wohlwollen nicht entziehen und unterlasse es nicht, mir Deine nächste Geschichte zu zeigen. Sonst würde ich es bedauern müssen, das „Vogelnest“ so heruntergerissen und nicht mit irgend einer Ausrede zurückgeschickt zu haben…“

So war er. Ehrlich, geradeheraus, durch und durch wahrhaftig. Darum hat er ja auch den Kirchendienst verlassen und sich schon bald mit der „Neckarzeitung“ überworfen. Er konnte aus seinem Herzen keine Mördergrube machen. Man wußte bei ihm, woran man war. Auch aus seiner sozialistischen Einstellung machte er keinen Hehl, erst recht nicht in kleinem Kreis. Er freute sich, daß er bei uns Verständnis für seine Ideen fand. Hin und wieder schickte er uns neue Broschüren über Marx, Engels, Lasalle, „zur Orientierung“.

Es wird wohl im Jahr 1941 gewesen sein, daß er bei uns als „Weinreisender“ auftauchte. Was vorausgegangen war, wußten wir nicht, wir hatten nur gehört, daß ihm die Herausgabe seiner Zeitung verboten worden war. Er selbst sprach nicht davon. Auch später, als wir ihn in Lindau besuchten, vermied er jedes politische Gespräch. Und doch waren es unvergeßlich schöne Wochen im Kreis seiner Familie. Er selbst arbeitete fleißig im Garten und unterrichtete uns in der Bekämpfung der „Werren“ (Maulwurfsgrillen). Damals sahen wir ihn auch auf dem Bahnhof in Lindau in der roten Mütze, mit dem Täfelchen dem Zugführer zur Abfahrt winken. Auch das gehört mit zu seinem Bild, daß er sich in sein Schicksal ergab, so hart es mit ihm umgehen mochte.

Gott sei Dank, es kam wieder anders; aber auch nach dem großen Umschwung blieb er für seine Freunde der, der er immer gewesen war, unser Erich Schairer.

Von etwas muß noch die Rede sein. Wenn ich zu Anfang sagte, daß wir durch Jahrzehnte getrennte Wege gegangen seien, so meine ich seine kämpferische Einstellung zu Christentum und Kirche, ja zur Religion überhaupt, wie er in seinem Büchlein „Gottlosigkeit“ ausgedrückt hat. Es war eine ausgesprochene Kampfschrift mit den Vorzügen und Nachteilen einer solchen. Wenn wir sie heute wieder lesen, so scheint uns vieles überholt. Von der Grundthese allerdings, von der er ausging, kann man das nicht sagen: „Das Christentum wird gepredigt, aber es lebt nicht“. Diesen Vorwurf haben ja schon Nietzsche und andere erhoben, und die Christenheit muß sich seiner immer bewußt bleiben. Bei Schairer kam anderes hinzu: die Ablehnung des persönlichen Gottesbegriffs und der Zwiesprache mit ihm. Doch müßte man eigentlich sein Büchlein von hintenherein lesen, um die Mühe zu erkennen, die er sich gab, trotz allem den Christen von heute zu verstehen. Seine Thesen über Gott erinnern uns in vielem etwa an das Buch des englischen Bischofs Robertson: „Gott ist anders“. Das Kapitel „Religiöse Pause“ in Schalters Büchlein enthält positive Aussagen wie: „Es wird einmal eine Zelt kommen, wo man wieder von Gott und Religion wird reden können, ohne mißverstanden zu werden; etwa wie wir heute vom Himmel oder vom Sonnenaufgang reden. Dann wird man, denke ich, auch den ganzen christlichen Sprach- und Gedankenschatz wieder ausgraben und unbefangen verwenden… Die Bibel ist eine unerschöpfliche Fundgrube von Weisheit und Wahrheit; man wird sie dereinst wieder zu würdigen wissen.

So war er auf der Suche nach „Gott“; kein eigentlicher Gottesleugner schlechthin, aber seine Aussagen über Gott mußten der Erkenntnis des modernen Menschen entsprechen, und er forderte von der Kirche, daß sie diesen Sachverhalt in voller Wahrhaftigkeit bejahe. Als ich ihn zum letztenmal auf seinem Kranken- und Sterbebett besuchte, waren seine letzten Worte: „Weiter wäre nichts mehr zu sagen.“ Er schwieg lieber von Gott, als daß er über ihn sprach.

1967, Wilhelm Teufel