Gedenkfeiern

— Jg. 1925, Nr. 9 —

Der heutige 1. März wird auf Anordnung des Reichsministeriums des lnnern und unter Mitwirkung der „kirchlichen Behörden“ als „Gedenktag für die Opfer des Weltkrieges“ begangen. D. Red. 

Gedenktage sind Meilensteine auf dem weiten Weg der Vergeßlichkeit und Gedankenlosigkeit. Heute ist wieder ein solcher; und es ist nicht zu bezweifeln, daß er „würdig“ und im gewissen Sinne „erhebend“ verlaufen wird. Denn je mehr wir uns von dem „großen Geschehen“ entfernen, desto eher hat die vaterländische Rhetorik Aussicht, das Gedächtnis zu besiegen. 

Bei einem ungetrübten Blick rückwärts wäre es ja unmöglich, die Würde zu wahren, wenn gewisse Leute das Podium betreten, um mit erhobener Stimme über das traurige Resultat ihrer Geistesverfassung zu sprechen. 

Auf dem Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands im Dezember 1918 in Berlin hat Richard Müller in seiner Eröffnungsrede gesagt: „Bevor wir an unsere Arbeit gehen, an diese große, schöne und schwere Arbeit, wollen wir jener unglücklichen Menschen gedenken, die als Opfer des fluchbeladenen, gestürzten Systems gefallen sind (die Versammlung erhebt sich), deren Gebeine draußen in kühler Erde ruhen. Wir wollen aber auch jener gefallenen Freiheitskämpfer gedenken, die im Kampfe für die sozialistische Republik gefallen sind. Das gesamte arbeitende Volk dankt diesen Helden, unvergessen werden sie fortleben als die großen Toten der sozialistischen Republik…“ 

Wie oft sind seit dieser ersten Gedächtnisrede solche und ähnliche Reden gehalten worden? Von Leuten aus allen Lagern, mehr oder weniger belastet mit der Mitschuld an dem Unfaßlichen. 

Der Redner setzt sich bei einer solchen Feier in Positur und sagt etwa: unsere Helden sind gefallen als Opfer eines fluchbeladenen Systems; aber das Gedächtnis erwidert: hast du nicht für die Kriegskredite gestimmt? Oder der Redner sagt: sie zogen hinaus, um das Vaterland zu verteidigen gegen welsche Rachsucht und englische Habgier; daraufhin das Gedächtnis: habt ihr nicht die ersten Kriegserklärungen in die Welt hinausgeschickt? Was habt ihr denn getan, den Krieg zu verhindern? Der Redner sagt: wir haben gekämpft für Recht und Gerechtigkeit und unsere gerechte Sache; aber das Gedächtnis sagt: sind wir nicht in Belgien eingefallen und haben das Völkerrecht schon zu Beginn mit Füßen getreten? Haben wir nicht französische Frauen deportiert und belgische Zivilisten von ihren Familien gerissen? Fabriken unnötigerweise ausgeplündert und französische Gruben ersäuft? Der Redner sagt: in berechtigter Notwehr ergriffen wir das Schwert, unser einziges Ziel war die Verteidigung; darauf das Gedächtnis: wolltet Ihr nicht die halbe Welt annektieren? Warum schreit ihr über die geraubten Kolonien? 

Der Redner sagt: Schulter an Schulter haben wir gekämpft, ein einig Volk von Brüdern, haben gemeinsam gedarbt und gelitten, in Not und Tod vereint als deutsche Brüder: wir liebten vereint, wir haßten vereint, wir hatten alle nur einen Feind … Aber das Gedächtnis sagt: habt ihr nicht aus dem Tod und der Qual eurer Brüder Profite gezogen? seid ihr nicht weit vom Schuß gesessen und weit von der Not des Hungers? Haben nicht die einen Krankheit und Siechtum, Verlust ihrer Existenz und ihrer Ersparnisse erfahren, und seid nicht ihr wohlbehalten über die „große Zeit“ hinweggekommen? 

Der Redner sagt: der Sieg war zum Greifen nahe, da haben die Vaterlandslosen uns das Schwert aus der Hand geschlagen und den Dolch in den Rücken gestoßen; darauf das Gedächtnis: der Dolchstoß — das war die „Volksgemeinschaft“ der Vaterlandsparteiler und der Klassenegoismus der Besitzenden, der sich um das letzte Opfer herumgedrückt hat und das Volk alle Lasten tragen ließ, bis es zusammenbrach. Der Redner: der beispielloseste Opfermut aller Kreise ist durch Verbrecher um seine Früchte betrogen worden; aber das Gedächtnis erwidert: was habt ihr für ein frevles Spiel mit der Kriegsanleihe getrieben? Nur um euren Besitz nicht zu schmälern, habt ihr alles auf eine Karte gesetzt und dem kleinen Mann, der sowieso Leben und Gesundheit darangab, vorgeschwatzt, hier sei die „sicherste Kapitalsanlage“ und die „beste Sparkasse“. Statt daß ihr euch wie das perfide Albion dazu aufgeschwungen hättet, den Besitz und die Kriegsgewinne zu schröpfen. Der Redner: die gutgläubigen Deutschen sind auf die vierzehn Punkte eines politischen Gauners hereingefallen; darauf das Gedächtnis: daß Wilson mit seinen Ideen unterlegen ist, das ist das Werk jener Männer, die mit ihrer Geistesverfassung der euren so außerordentlich nahestehen. 

Der Redner sagt: ein undeutsches Wesen hat in Deutschland die Oberhand gewonnen; das Gedächtnis erwidert: freilich, noch nie und nirgends ist schamloser und feiger gegen Volksgenossen mit Mord und Totschlag gewütet worden, und noch nie hat die Justiz so wenig Interesse gezeigt, das mit Füßen getretene Recht wieder zu Ansehen zu bringen. 

Der Redner schließt: eher wird Deutschland nicht zu neuem Ansehen, zu Macht und Größe gelangen, ehe nicht der alte Geist über den Geist der „Novemberverbrecher“ gesiegt hat; daraufhin das Gedächtnis: nach den letzten Jahren wohl möglich, daß er nocheinmal siegen wird, aber nur und Deutschland seinem endgültigen Untergang entgegenzutreiben. 

Aber wie das Gedächtnis den Mund auftun will, um dem Redner all dies tatsächlich zu erwidern, wird es verhindert durch den machtvollen Applaus des tief ergriffenen Publikums, das dem Redner „voll und ganz“ beipflichtet. 

1925, 9 · Hermann Mauthe