Hinter den Kulissen der Sonntagszeitung

von Max Barth

Anfangs 1924 machte Dr. Schairer mir den Vorschlag, zu ihm nach Heilbronn zu kommen, da sein Mitarbeiter Hermann Mauthe im Begriff sei, nach Mexiko auszuwandern. So war ich vom Frühjahr 1924 bis Ende Juli 1932 an der „Sonntags-Zeitung“, zeitweilig als Redaktionsmitglied, in den Zwischenzeiten als regelmäßiger auswärtiger Mitarbeiter. In den Zeiten, da ich nicht in Heilbronn, beziehungsweise in Stuttgart lebte, wohin Schairer und sein Blatt im Sommer 1925 übergesiedelt waren, nahm zunächst Hermann Mauthe, der nach wenigen Monaten von Mexiko genug gehabt hatte, und später Hermann List meinen Platz ein. Im Frühjahr 1931 übernahm List die Sonntags-Zeitung als Herausgeber; auf den 1. August 1932 nahm Schairer sie wieder an sich und entließ mich. Von da an arbeitete ich nur noch gelegentlich mit.

Eine logische Folge von Schairers Vorliebe für den gesunden Menschenverstand, für das Allgemeinverständliche und die schlichte, direkte Rede war, daß ein Teil der Beiträge seines Blattes von Nichtpolitikern und Nichtschriftstellern stammte, also von Lesern, die über irgendein Gebiet Bescheid wußten. Berufsschreiber schätzte er nicht sehr, obgleich wir beide ja auch solche waren. Als sich einmal Emil Ludwig unterfing, uns einige Beiträge zu schicken, sagte er: „Die schicken wir ihm zurück! Das ist so ein Schriftsteller.“ Andere Blätter nahmen Arbeiten des damals sehr bekannten Verfassers mit Kußhand an, weil sein Name einen Abglanz auf sie warf. Zu unseren Mitarbeitern gehörte z. B. ein Mann, der zwei Doktortitel hatte, aber ein Vagabund war. Er erschien ein- oder zweimal im Jahr auf der Redaktion, kam gerade von Italien oder Afrika, blieb ein Weilchen, erzählte und ließ zwei oder drei Artikel da. Ein anderer, der von Zeit zu Zeit auftauchte, war ein wirklicher Vagabund, einer aus Prinzip, mit anarchistischer Weltanschauung. Er trug einen gewaltigen braunen Vollbart und hatte eine reich und voll tönende Stimme, in seinem weitschwingenden Mantel schritt er einher wie ein König. Schairer hatte eine Schwäche für Originale. Normale Besucher — die oft die Redaktion aufsuchten, weil sie ihn sehen wollten — gingen abgekühlt von dannen, wenn nichts an ihnen Schairers Interesse weckte. Er konnte dann von erstaunlicher Wortkargheit sein und von bewußter Primitivität und Hölzernheit.

Unter den Lesern hatten wir auch allerhand Käuze. In einem Winkel des Bayrischen Waldes saß zum Beispiel ein einfacher aber politisch interessierter Mann, der nichts an sich hatte, was ihn als Gesinnungsgenossen auswies, aber da er arm war, bekam er die „Sonntags-Zeitung“ umsonst. Ein anderer Gratisbezieher war ein Mann in einem bayerischen Gefängnis. Er hatte zwei Morde auf dem Gewissen, und offenbar sehr üble. Von Zeit zu Zeit schrieb er einen Brief, in dem er seine Erwartung mitteilte, bald begnadigt zu werden. Als ich in New York, wo ich bei Hearst arbeitete, einmal eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen hatte, einem alten nationalistischen Amerikadeutschen, brach der plötzlich wütend aus: „Und die Zeitung, an der Sie waren, das war doch nur ein Winkelblatt!“ Auch er muß die „S.-Z.“ manchmal gelesen haben. Vielleicht war er jener Mann, der von Zeit zu Zeit lange Briefe schrieb, die mit Chicago datiert und aus Chicago abgesandt waren. Er unterschrieb mit „Austauschprofessor“, und die Briefe waren voll von Beschimpfungen. Es hagelte nur so von Landesverrätern, Hochverrätern, Lumpen, A… löchern usw. und von Drohungen, was man mit uns anfangen werde. Ich schlug Schairer vor, einmal so einen Erguß abzudrucken, aber er sagte: „Das ist ein Psychopath; der will ja gerade, daß man seine Sachen druckt. Es trifft ihn viel mehr, wenn man ihn garnicht beachtet.“ Womit er sicherlich recht hatte.

Die Behörden waren der „Sonntags-Zeitung“ natürlich nicht sehr gewogen. Zwar waren die einzelnen Beamten — wie ich mindestens aus der Stuttgarter Zeit weiß — aus Interesse scharf dahinter her, das abgelieferte Pflichtexemplar gleich nach dem Herauskommen lesen zu können; aber die Behörde als Amt versuchte immer wieder, dem Dr. Schairer ein Bein zu stellen. Das fing schon an, als die erste Nummer erschienen war. Schairer hat die Geschichte in dem 1929 erschienenen Sammelband „Mit andern Augen“ erzählt.

Eines Tages, noch in Heilbronn, kam ich von der Post zurück. Frau Schairer ließ mich ein. „Gehen Sie nur nicht hinein“, sagte sie, „die Polizei ist da.“ Ich ging natürlich doch hinein. Schairer stand blaß vor Wut an seinem Stehpult, während zwei Kriminalbeamte in einem Schrank wühlten. Ich fragte, was los sei; Schairer zeigte mir die vor ihm liegende letzte Nummer. Er hatte da in einem Artikel über die Neuordnung Deutschlands davon geredet, daß dazu auch die „Zerschlagung Preußens“ nötig sei. Das war ein volkswirtschaftlicher Ausdruck; man redet von der Zerschlagenheit eines Großgrundbesitzes zum Beispiel. Mit dem Hochverrat, den man Schairer anhängen wollte, war es nichts. Die Beamten stießen auf eine Fotografie: Auf einer breiten Treppe standen Herren im Gehrock, hohe Offiziere und Schairer auch dabei. Er mußte erklären. „Das ist der deutsche Botschafter in Konstantinopel, das der General Soundso…“; ich glaube, es war auch der eine oder andere türkische Offizier dabei. Schairer war im Krieg eine zeitlang zur deutschen Botschaft in Konstantinopel abkommandiert gewesen; er hatte auch, gemeinsam mit einem Türken, ein deutsch-türkisches Worterbuch herausgebracht. Die Beamten wandten sich anderen Dingen zu. Gleich das nächste war ein Dokument mit sonderbaren Schriftzeichen, womöglich in einer Verschwörerschrift. Es war ein Handschreiben aus der Kanzlei des Sultans Abdul Hamid II. an Schairer, eine Anerkennung seines Wirkens für die Türkei.

Als die Nazis „dran waren“, ging es natürlich erst recht los. Im Frühjahr 1933 wurde die „Sonntags-Zeitung“ verboten; das Verbot wurde aber nach vier Wochen aufgehoben. Ein halbes Jahr später, im September 1933, legte die Gestapo von Altona der in Berlin drei Nummern vor, die zeigen sollten, daß die „S.-Z.“ „feindlich eingestellt“ sei. „Ihr Druck in lateinischer Schrift“, heißt es da auch, „läßt darauf schließen, daß sie auch für den Versand ins Ausland bestimmt ist.“ Der Denunziant war die Oberpostdirektion Hamburg; sie hatte die drei Nummern der Gestapo übergeben. Berlin wandte sich an die Politische Polizei in Stuttgart, und die antwortete, das Weiterbestehen der „Sonntags-Zeitung“ sei „aus besonderen politischen Gründen“ wünschenswert. Es ist also anzunehmen, daß man das Blatt der Tarnung wegen zunächst am Leben ließ. Man wollte wohl zeigen — besonders dem Ausland (man denke an die lateinische Schrift und die Bedeutung, die sie für Gestapohirne hatte!) — daß auch unabhängige Blätter geduldet würden. Die Verfolgung erstreckte sich übrigens auch auf andere. So wurden zwei Partner, die sich Dr. Schairer genommen hatte, nacheinander abgelehnt, der eine im November 1935, der andere im Januar 1936: eine weitere verlegerische Tätigkeit des N. N. könne nicht befürwortet werden, hieß es jedesmal. Auch über den Drucker Friedrich Späth in Waiblingen wurde dieses Verdikt ausgesprochen. Späth kam dann auf einige Zeit in Schutzhaft.

An Schairer selbst ging man im März 1936 heran. Dem Reichsverband der deutschen Zeitungsverleger wurde vom Württembergischen Politischen Landespolizeiamt, dem er, wie mitgeteilt wurde, „aktenmäßig bekannt“ war, sein Lebenslauf geschildert: Pfarrer, der aus der Kirche ausgetreten war, Redakteur an der „Neckar-Zeitung“, Herausgeber der „Sonntags-Zeitung“, „die er in radikal pazifistischem Sinne leitete“. Dreimal wegen politischer Vergehen angezeigt, zweimal beim Oberreichsanwalt, 1926 und 1927, einmal bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, 1928. Alle drei Verfahren waren eingestellt worden: obwohl man ihm sehr gerne etwas anhängen wollte, konnte man aus den beanstandeten Texten doch keinen Landesverrat konstruieren. Es wurden Stücke aus seinen Artikeln abgedruckt (belastende natürlich, für Nazihirne); es wurde seine dunkle Vergangenheit aufgedeckt: wichtige Funktionen in Friedensgesellschaft, deutscher Liga für Menschenrechte, republikanischer Beschwerdestelle, Mitgliedschaft in Freidenker- und Monistenbund, zeitweilige Mitgliedschaft in der Internationalen Arbeiterhilfe. Und natürlich konnte „die Fortsetzung seiner verlegerischen Tätigkeit nicht befürwortet werden.“