In Verlegenheit

— Jg. 1930, Nr. 35 —

Der Wahlausweis ist ins Haus gekommen. Nummer so und so. Wahllokal da und da. Was macht man bloß?

Zuhause bleiben? Aber sie werden dann kommen nachmittags, die Schlepper, und milde Vorwüde ausstrahlen. Mit Recht eigentlich. Man ist doch schließlich Staatsbürger, nicht wahr. Es kann auf eine Stimme ankommen; auf die deine!

Verreisen? Mit dem Rucksack in den Wald liegen? Es sieht nach Flucht aus, nach Feigheit. Geht auch nicht. Würde einen ganz schlechten Eindruck machen.

Also hingehen. Schließlich ist die Wahl ja geheim. Man kann zwei Zettel statt einen in den Umschlag tun. Man kann zwei Parteien ankreuzen, oder gar keine. Dann ist die Stimme ungültig. Doch das Gewissen sagt: das ist so etwas wie Betrug, wenn du’s absichtlich machst; du müßtest dich vor dir selber schämen.

Aber ums Himmels willen: was kann man denn mit gutem Gewissen wählen? Welche Partei ist die richtige? Hat man nicht die ganze Zeit auf die verdammten Bonzen geschimpft?

Aha, da sind doch die sogenannten Splitterparteien. Ist die U.S.P. des wackeren alten Ledebour eigentlich noch da? Oder wie wär’s mit Vitus Hellers Christlich-sozialer Reichspartei? Die Leute sind sozialistisch und pazifistisch bis in die Knochen. Wären’s eigentlich wert, daß man sie unterstützte.

Bloß: sie werden bestimmt nicht durchdringen. 60.000 Stimmen in einem Wahlkreis, sonst langt’s keinen Sitz! Und das ist ausgeschlossen. Alle Stimmen, die auf Splitterparteien fallen, sind nun einmal verloren, umsonst abgegeben. Sogar wenn’s so einem Grüppchen zwei, drei Sitze langen würde — was hätt’s für einen Wert? Nein, dazu denken wir zu sehr politisch. Wenn ich meine Stimme abgebe, soll sie wenigstens ein wenn auch kleines Gewicht haben.

Bliebe also: S.P.D. oder K.P.D. Welche von beiden? Die Panzerkreuzerpartei? Die Selbstzerfleischer?

Die Sozialdemokraten haben sich im letzten Reichstag und im Kabinett Hermann Müller als derart unzuverlässig und unfähig erwiesen, daß ich mir geschworen habe, das nächstemal nicht mehr Liste 1 zu wählen. Soll ich mich neuen Enttäuschungen aussetzen? Kann man eine Partei wählen, von der nichts, aber auch gar nichts zu erwarten ist?

Aber ist nicht eine starke Sozialdemokratie die einzige Möglichkeit der Rettung vor dem drohenden Bürgerblock, dessen Schatten sich immer deutlicher am Horizont abzeichnet? Vor einem Bürgerblock mit Einschluß der Hakenkreuzler, die man noch vor ein paar Wochen nicht für „regierungsfähig“ gehalten hat, was man heute kaum mehr unterschreiben kann? Wäre ein „Hindenburgkabinett“, eine reaktionäre Regierung von den Nationalsozialisten bis zur Staatspartei, nicht ein großes Unglück für Deutschland? Ein umso größeres, wenn eine starke und aggressive radikale Linke ihr die erwünschten Anlässe zum „Durchgreifen“ liefern würde? Darf man einer derartigen gefährlichen Wendung Vorschub leisten?

Die Kommunisten kommen für keine Regierungsbildung, für keinerlei „positive“ politische Arbeit in Betracht. Zu ihrem und unserem Glück, denn so, wie sie sind, haben sie ebensowenig das Zeug dazu wie die Hitlerleute. Aber sind sie nicht die einzige zuverlässige Oppositionspartei, die wir haben? Hätte ich nicht im letzten Reichstag fast immer so abgestimmt wie die Kommunisten? Werden nicht im nächsten Reichstag Dinge zur Debatte stehen — Strafrechtsreform, Schulgesetz, Kirchengesetze, Sozialpolitik, Steuerfragen, Wrrtschaftsgesetzgebung, Verhältnis zu Rußland —, bei denen ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen kann, daß die kommunistische Partei meine Meinung vertreten wird? Wird es also nicht das Beste sein, kommunistisch zu wählen?

Ich will mir’s nocheinmal überlegen. Wie heißt doch das alte, gute Wahlrezept des Herrn von Gerlach? „Lieber einen Meter zu weit nach links als einen Zentimeter zu weit nach rechts!“

1930, 35 · Erich Schairer