Kirche und Aufwertung

— Jg. 1926, Nr. 31 —

Die Freidenkervereine haben einmal in Stuttgart ein Plakat anschlagen lassen, auf dem unter Hinweis auf das Verhalten der Kirche bei der Volksabstimmung über die Fürstenvermögen zum Austritt aus der Kirche aufgefordert wurde. Denn die Kirchen stünden nicht auf der Seite der Mühseligen und Beladenen: sie seien nicht Volks-, sondern Fürstenkirchen. Deshalb hätten sie ja auch nicht protestiert, als die alten Leute, die Mündel und die kleinen Sparer durch die Inflation enteignet wurden.

Diese letztere Feststellung (nur diese) wird im Stuttgarter Evangelischen Gemeindeblatt als eine „längst widerlegte Verleumdung“ bezeichnet. „Bekanntlich haben die Kirchen im Gegenteil sich rechtzeitig und mit allem Nachdruck für eine möglichst weitgehende, gerechte Aufwertung eingesetzt.“

Wenn ein Satz mit „bekanntlich“ anfängt, bin ich sonst gerne etwas mißtrauisch gegen seinen Inhalt. Auch könnte man vielleicht, wenn man pedantisch sein wollte, finden, daß das „bekanntlich“ erfolgte rechtzeitige und nachdrückliche Eintreten der Kirche für eine „möglichst weitgehende“ nachträgliche Aufwertung und ihr Verhalten während der Inflation zwei Paar Stiefel seien; daß also hier etwas ganz anderes bestritten werde, als was behauptet worden sei. Aber bekämpfen wir den Zweifel, wie man’s uns damals im Konfirmandenunterricht empfohlen hat, und glauben wir einfach beides: daß die Kirche rechtzeitig und nachdrücklich gegen die Inflation und für die Aufwertung gekämpft hat.

Dann bleibt uns zunächst nur das Eine unbegreiflich: daß wir vernagelten Freidenker von dieser „bekannten“ Tätigkeit der Kirche gar nichts gemerkt haben.

Wo, wann, wie mag sie ausgeübt worden sein?

Waren vielleicht Massenumzüge, die Geistlichkeit im Ornat an der Spitze? Massenversammlungen mit Pfarrern beider Fakultäten als flammenden Rednern?

Aber nein, so machen’s die Kommunisten, nicht die Kirchenleute. Wie würde das aussehen, behüte, wenn Konsistorialräte auf die Straße gingen?

Aber wahrscheinlich hat der „Evangelische Preßverband“ und der Volksverein in Mönchen-Gladbach eine Pressekampagne eröffnet? Die deutschen Zeitungen mit Artikeln, Aufsätzen, Aufrufen gegen die Inflation oder für die Aufwertung überschwemmt? Oder hat die Kirche dringliche Eingaben an die Parlamente gerichtet? Die ihr nahestehenden Parteien „rechtzeitig“ und „nachdrücklich“ bearbeitet, sie möchten um der Gerechtigkeit oder um Jesu Christi willen gegen die Inflation oder für die Aufwertung auftreten?

Verflucht nochmal, daß ich gar nichts, aber auch gar nichts davon erfahren habe. Sollten die Zeitungen alle im Solde des Teufels stehen und den ganzen Kampf der Kirche gegen die Inflation glatt in den Papierkorb geworfen haben?

Halt, haalt! Jetzt geht mir ein Licht auf! Die Kirche kämpft ihre Kämpfe weder auf der Straße noch auf dem Papier. Hat sie nicht ihre ureigene Arena, wo sie ihre Autorität entfaltet und wo ihr „bekanntlich“ niemand dreinredet: eben die Kirche?

Sie wird also wohl auf allen Kanzeln in Deutschland mit heiligem Eifer gegen den Betrug an den Witwen und Waisen zu Felde gezogen sein. Wochen- und monatelang, rechtzeitig und mit allem Nachdruck. Wie müssen die Gotteshäuser widergehallt haben von dem frommen Zorn der Pfarrer und Priester, von Profeten- und Jesusworten! Wie mag es den Inflationsgewinnern, den Reichen und Mächtigen in ihren Stühlen da zu Mute geworden sein! Wie müssen die Mühseligen und Beladenen, die Betrogenen und Bestohlenen da aufgeatmet haben, als ihnen der christliche Klerus in ihrem Elend zu Hilfe kam? Durch die Kirchen und Bethäuser von ganz Deutschland muß da eine Welle gebraust sein, eine Welle neuer Sittlichkeit, ein Entrüstungssturm gegen den unsittlichen Staat, der denen nimmt, die wenig oder nichts haben, und denen gibt, die haben!

Daß ich auch davon nichts gemerkt habe, daran bin ich nun sicher ganz allein schuld. Weil ich ja nie in die Kirche gehe.

1926, 31 Kazenwadel