Kriegsdienst?

Weltfriedenskongress 1907 in München: Bertha von Suttner (sitzende Reihe, Zweite von links), Ludwig Quidde (rechts daneben), Frédéric Passy (rechts daneben); Margarethe Quidde (hinter Ludwig Quidde), Henri La Fontaine (rechts neben ihr), A. H. Fried (stehende Reihe, Dritter von rechts)

— Jg. 1926, Nr. 52 —

Der Gedanke der Kriegsdienstverweigerung hat in der deutschen Friedensbewegung festen Fuß gefaßt. Das hat auch der im Oktober in Heidelberg abgehaltene Pazifistenkongreß wieder bewiesen. Alle Referate, Diskussionsreden und Resolutionen, die sich für die Kriegsdienstverweigerung aussprachen, haben den lebhaften Beifall der Mehrheit der Kongreßteilnehmer erhalten. Trotzdem besteht natürlich, besonders in der größten deutschen Friedensorganisation, der Deutschen Friedensgesellschaft, die einen verhältnismäßig konservativen Pazifismus vertritt, noch eine starke Gegnerschaft zu diesem Grundgedanken. 

Der Argumente, die von seiten der konservativen, „gemäßigten“ Pazifisten gegen die „radikalen“ Kriegsdienstverweigerer ins Feld geführt werden, sind es viele. Das wichtigste, das übrigens die meisten der anderen umfaßt, das Rahmenargument sozusagen, ist das staatspolitische. Es lehnt die Kriegsdienstverweigerung ab, weil es in ihr den ersten Schritt zur Anarchie sieht, die Gefährdung des Staats und der Staatsgrundlage durch die vom Individuum auf Grund seines Gewissens, seiner Gesinnung, seiner Überzeugung ausgeübte Initiative. Wir erleben also das Merkwürdige, daß Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnten ständig als politische Protestanten der offiziellen, legalen, staatlich sanktionierten Lehre von der Unentbehrlichkeit und Gottgewolltheit der Armee und des Krieges ihre eigene, aus innerstem Gewissensdrang erwachsene pazifistische Gesinnung entgegensetzen, in diesem speziellen Fall, der nichts weiter ist als der erste Schritt zur Verwirklichung des Pazifismus, plötzlich ihr protestantisches Prinzip im Stich lassen zugunsten des katholischen, das dem Individuum das Recht der Selbstbestimmung über sich und sein Verhalten zum Krieg abspricht. Ist das konsequent? […] 

So sehr richtig ist, daß das Individuum um des Wohls der Gesamtheit willen gewisse Beschränkungen seiner Handlungsfreiheit durch die Gesetze und Maßnahmen des Staates dulden muß, so falsch ist es, daß der Staat ein sakrosanktes Wesen sei, dessen Gebaren zu beurteilen, zu kontrollieren und zu beeinflussen das Individuum kein Recht habe. Der Staatsbürger hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, den Staat und sein Gebaren zu kontrollieren. Wie sollte überhaupt eine Entwicklung der Staatsform, der Gesetzgebung, der Verwaltungsmethoden, der sozialen Zustände möglich sein, wenn nicht die Glieder des Staates die Kontrolle und Abänderung dieser Organisations- und Verwaltungsmaschine ausübten? Ein Mittel dieser Kontrolle des Staats ist die Forderung der Abschaffung des Kriegs, ein weiteres und wirksameres die Verpflichtung zur Kriegsdienstverweigerung. 

Nicht daß ich glaubte, durch die Kriegsdienstverweigerung sei der Krieg aus der Welt zu schaffen! Sie ist hauptsächlich deshalb wichtig, weil sie besonders drastisch und verständlich den Staat, d.h. die für sein Gebaren direkt Verantwortlichen an ihre Verantwortung und Pflicht erinnert. Weil sie ein Mahnruf an die Staatsmänner ist, pazifistische Politik zu machen, auf die Abschaffung des Krieges hinzuarbeiten. Die stärkste Mahnung, die wir bis jetzt zur Verfügung haben. 

Darin, daß ein moderner Krieg nicht durch die Kriegsdienstverweigerung der Massen verhindert werden kann, bin ich mit vielen Pazifisten und den meisten Nichtpazifisten einig. Der nächste Krieg, der mit Giftgasen und hauptsächlich von Flugzeugen geführt werden wird, benötigt keine großen Heere; er wird immer die verhältnismäßig kleine Zahl der Flugzeug- und Autoführer, Techniker und Chemiker finden, die zu seiner Durchführung nötig sein werden. […] 

Es ist aber trotz allem verkehrt, die Kriegsdienstverweigerung als veraltetes, unwichtiges Mittel zu verwerfen oder gar verächtlich zu machen. Sie hat immer noch ihre große Bedeutung. Sie ist ein Druckmittel auf die Regierenden, ein lauter, nicht zu überhörender Protest. Sie ist die konsequente Schlußfolgerung aus den pazifistischen Gedankengängen und Proklamationen. Sie ist ein Beweis der Zivilkurasche, die sich nicht in dienende Unterwürfigkeit auflöst vor den unsittlichen Forderungen des Staates und dem zürnenden Stirnrunzeln seiner Lenker. Und sie ist eine moralische Demonstration, die wir vom Pazifisten verlangen, ein Beweis seiner Gesinnung, seiner Konsequenz, ein Beweis der Übereinstimmung zwischen seinem Denken und Handeln. Sie ist die Probe aufs Exempel. 

Darum also: Kriegsdienstverweigerung? Ja!


1926, 52 · Max Barth