Mit Mütze und Schläger

— Jg. 1921, Nr. 4 —

Als ich im Herbst 1906 auf die Hochschule kam, habe ich mich einer farbentragenden schlagenden Verbindung angeschlossen und bin bald eines ihrer begeistertsten Mitglieder geworden. Nicht blind begeistert: ich habe bald manche Mängel gesehen, vor allem, daß das geistige Leben im Bund nicht recht auf der Höhe war. Im Ganzen aber herrschte ein gesundes, tüchtiges Leben. Wir waren 20 bis 30 „Aktive“, d. h. jüngere Semester, und ein Dutzend oder mehr „Inaktive“, die mehr oder weniger heftig dem Abschluß ihrer Studien zudrängten; das war so die rechte Zahl: nicht so viel, daß nicht jeder jeden genau gekannt hätte oder daß Sonderungsbestrebungen möglich gewesen wären, aber auch nicht so wenig, daß der Einzelne zu viel Arbeit für den Bund und keine Möglichkeit gehabt hätte, Freunde zu finden. Unter den 40 war eine große Zahl begabter Leute, und an der Spitze stand ein 3. Semester, das aber bereits im praktischen Leben gestanden hatte und ein halb Dutzend Jahre älter war als wir anderen. Die Zusammensetzung war gut, und der Bund strebte aufwärts, verfolgte seine Ziele geschickt und mit Ausdauer. Man trug „Kulör“, d. h. Mütze und Band, also mußte man im Anzug und Auftreten auf sich halten; das taten wir, ohne daß wir Fatzken gewesen wären. Und es wurde „Bestimmung gefochten“, also war es in Ordnung, daß man auf dem täglichen „Hauboden“ regelmäßig sein Hemd durchschwitzte und sich gegenseitig grün und blau schlug; die Erfolge auf Mensur selber machten uns stolz, ohne daß wir unnötig „geramscht“, d. h. Zusammenstöße gesucht hätten. Das Studium kam bei den Meisten nicht zu kurz, obwohl wir nicht bloß fochten, sondern auch ritten, „spuzten“, d. h. Ausfahrten machten, wanderten und — tranken. Zucht und Freiheit waren glücklich verbunden, ich verdanke meinem Bund viel und habe allerhand auch für ihn getan.

Von 1910 ab — man kann’s auf das Jahr hin angeben — kam zu allen Verbindungen ein Nachwuchs, der einen andern Geist mitbrachte. Wir hatten den volkstümlichen Schwabengeist gehabt: aufrichtig, derb, kräftig in Liebe und Haß, und für unsere Ideale begeistert; der Bundeswahlspruch „Freundschaft, Ehre, Vaterland“ war uns ehrlich das Höchste. Von 1910 ab wurde das anders, jetzt kamen die Streber, die vom ersten Tag ab an Examen und Karriere dachten, die Korrekten und Patenten, denen Bügelfalte und modische Kravatte und gesellschaftlicher Schliff das Höchste waren, und die statt dem Männertrunk den Weibern nachliefen. Die Jungen kamen zum Bund nicht mehr oder selten wegen „Freundschaft, Ehre, Vaterland“, sondern weil gesellschaftlich was geboten war, und weil man für später „Beziehungen“ bekam. Die „Alten Herren“ wurden fürs Leben der Jungen immer wichtiger; sie hatten der Aktivitas ein Haus gebaut, und diese fing damit an, sich zum Klub zu entwickeln. Es gab Semester, in denen es wieder besser war; im Ganzen wird Keiner, der diese Jahre in Tübingen erlebt hat, die Veränderung verkennen, die 1910 eingesetzt hat.

Der Krieg kam. Das Nationale — damit war ich ganz einverstanden gewesen — hatte in allen Verbindungen immer eine starke Rolle gespielt (parteipolitisch war meine Verbindung nicht belastet gewesen). So war die Begeisterung groß, und die meisten haben sich gut geschlagen. Und im Feld fühlte man sich erst recht zusammengehörig, oft ist einer stundenlang gelaufen oder geritten, um einen Bundesbruder zu treffen. Und die Familien der Alten Herren schickten allen von daheim Liebesgaben mit einem Stück des dreifarbigen Bands, und mancher ist mit dem Band um die Brust gefallen und begraben worden. Es war echte, schöne Freundschaft, die Treue war unter Bundesbrüdern kein leerer Wahn. Das kann keiner vergessen, der mit dabei war.

Und doch hat mir der Krieg die Augen geöffnet und hat meine Kritik an studentischer Art wachsen lassen. Bei der Beförderung zum Offizier wurde gefragt: hat er Beziehungen, ist er Akademiker, hat er die Reife-Prüfung, das Einjährige, dann erst zuletzt kam die einzige Frage, auf die es ankam: ist er ein guter Soldat. Das war übel gewesen im Frieden und wurde schamlos im Krieg. Jeder, der draußen war und mit im Graben lag, hat unter der „Mannschaft“, d. h. den Nicht-Einjährigen eine erstaunliche Anzahl Leute getroffen, die nach Urteil, Charakter, soldatischer Eignung von niemand zu übertreffen waren. Sie konnten, auch wenn sie 30 Monate im Feld waren, nicht Offizier werden — man hat lieber die windigsten, jüngsten Einjährigen befördert; die paar Ausnahmen, wo etwa Mannschafts-Flieger die Achselstücke bekamen, sind wirkliche Ausnahmen geblieben, in Württemberg werden’s noch keine drei sein. Das war das Eine, was ich sah. Ich war niemals so blöd gewesen, die „besseren“ Leute ohne weiteres für die tüchtigsten Leute zu halten, oder zu bezweifeln, daß unter dem „Volk“ gleich Tüchtige wären; aber daß „besser“ und tüchtig, und Arbeiter und weniger tüchtig sich so wenig decken würden, das hatte ich nicht gewußt. Alle Standesvorrechte, das war mir im Graben klar geworden, mußten deshalb in Zukunft verschwinden, auch wenn sie scheinbar harmlos waren. Der Student mußte aufhören, Bestimmung zu fechten und außerhalb der Kneipe Mütze und Band zu tragen. Das habe ich 1915 und 1916 in meinem Bund beantragt, und als ich nicht durchdrang, 17 und 18 wenigstens Reformen erstrebt. Ein bißchen was hab ich erreichen können, alles Wesentliche ist geblieben.

Mütze und Schläger durften nicht bleiben, weil sie Standes-Vorrechte sind und wir zu einem Volk verschmelzen mußten. Und es gab noch einen anderen Grund, der nicht weniger wichtig war. Der Krieg hatte ganz neue politische, wirtschaftliche, kulturelle Verhältnisse geschaffen, den Geisteswissenschaften ihre Rückständigkeit, Unfähigkeit, Weltfremdheit bestätigt und ihnen zu den ungelösten und unerkannten alten Aufgaben hin neue von höchster Lebensbedeutung gestellt. Von den Universitätsprofessoren war kein neuer Geist zu erwarten, die Hoffnung stand nur bei der akademischen Jugend. Wenn die ihre Aufgabe erkannte und ernst nahm, konnte sie kein Geld und keine Lust mehr haben für Äußerlichkeiten und keine Zeit mehr fürs Fechten (das als Gegenmittel gegen Saufen, Stubenhocken, körperliche und geistige Verweichlichung und auch gegen deutsche Formlosigkeit einmal eine Berechtigung haben konnte). Wenn der Musensohn nicht Filister werden wollte, mußte er volkstümlich bleiben und werden, und mußte erstreben und suchen. Der Krieg, ob gewonnen oder verloren, hatte alle Sachverständigen-Meinungen, alle „ehrwürdigen“ Überlieferungen und hochstehenden Überzeugungen erschüttert; Volk und Staat mußten auf ganz neue Grundlagen gestellt werden. Dafür hoffte ich auch auf die akademische Jugend. Ich habe die Hoffnung begraben. Die jungen Herren mit Mütze und Schläger haben viereinhalb Jahre größten Erlebens verschlafen, und haben nichts vergessen und nichts gelernt. Sie sehen ihre Aufgabe darin, nationale Redensarten zu dreschen und als Stütze des alten Systems sich gegen den inneren Feind zur Verfügung zu stellen; sie verteidigen alte äußerliche Kasten-Vorrechte, pflegen alte und suchen neue „Beziehungen“. Die Studentenverbindungen haben einmal Ideale gehabt; sie haben 1910 angefangen, Vergnügungsstätten und Versorgungsanstalten zu werden; sie haben heute keine Existenzberechtigung mehr. Student kommt von studere = sich strebend bemühen, mit Ernst und Eifer suchen. Die heutigen Studenten glauben alles gefunden zu haben; sie können ihr Volk, dessen geborene Führer zu sein sie sich rühmen, nicht erlösen — das Volk muß sorgen, daß es sich von seinen Herren Studenten erlöst, für die es teures Geld bezahlt und die fortfahren, die Wissenschaft zur Hure zu machen — nach dem Vorbild ihrer Professoren, die im Krieg „wissenschaftlich festgestellt“ haben, daß der Mensch in Deutschland leben könne von dem, was er auf deutsche Lebensmittelkarten bekam.

Ich bin gern froh mit Menschen, von denen ich weiß, daß sie, wo’s notwendig ist, ernst sind; ich mache auch gerne Dummheiten mit leidlich gescheiten Menschen. So bin ich Student gewesen und habe mich wohl gefühlt.

Als die Staatsmaschine eingefahren, die Klassenherrschaft von „Besitz und Bildung“ gesichert war, da blieb es verborgen, wie unzulänglich der größte Teil des akademischen Nachwuchses war. Heute ist der Einzelne auf sich selbst gestellt, heute sollte der Akademiker suchen, sich mühen, sollte zweifeln gerade am „Selbstverständlichen“, sollte den Mut haben, selber zu denken, zum Erkannten aufrecht sich zu bekennen — dann müßte er in scharfen Gegensatz zur „Gesellschaft“ kommen, weil er dann auf die Seite des Volkes und des Volkstümlichen, Kraftvollen, Natürlichen treten müßte. Statt dessen paradieren die jungen Herrn mit Mütze und Schläger, sind patent, wo wir 400 Milliarden Schulden haben, beweisen körperlichen Mut (vielmehr: Beherrschtheit), wo die Zeit moralischen Mut braucht, sind „der Väter heiligem Brauche treu“, wo alle Grundlagen sich geändert haben.

Die jungen Herrn mit Mütze und Schläger sind die Söhne des gutsituierten Bürgertums. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Unsoziale, verbildete Eltern haben Kinder, die in Zeiten der schwersten Not nur an sich selber denken, auf ewig Gestriges schwören und pfauenhaft eitel sind. Die Axt ist dieser Bourgeoisie an die Wurzel gelegt.

1921, 4 Karl Hammer