Mutiger Publizist in der Weimarer Zeit

— Stuttgarter Zeitung vom 12. Sept. 1995 —

Ursprünglich wollte der Lehrersohn Pfarrer werden. Dann promovierte er über den Dichter Schubart, kehrte der Kirche den Rücken und wurde Journalist. Im Krieg war er Weinvertreter und Bahnhofsvorsteher, nach dem Krieg Herausgeber der „Stuttgarter Zeitung“. 

Erich Schairer war, das läßt sich ohne Einschränkung sagen, einer der mutigsten Publizisten der Weimarer Republik und in den ersten Hitler-Jahren. Manche stellen ihn neben Kurt Tucholsky und – mehr noch, weil wesensverwandter – neben Siegfried Jacobsohn, mit dessen „Weltbühne“ die von Schairer herausgegebene ,,Sonntagszeitung“ in vielem übereinstimmte. Erich Schairer, ein Freund Josef Eberles, kam im September 1946 zur „Stuttgarter Zeitung“, er wurde Mitherausgeber und war verantwortlich für den politischen Teil. Leider waren ihm nur acht Jahre des Wirkens vergönnt. 1954 legte er seine Ämter nieder und starb zwei Jahre später in Schorndorf. Gleichwohl hat er bleibende Spuren hinterlassen und den Charakter der noch jungen „Stuttgarter Zeitung“ geprägt. 

Das konnte bei einem so eindrucksvollen Manne auch gar nicht anders sein. Der 1887 im württembergischen Hemmingen geborene Lehrersohn hatte einen unbezähmbaren Hang zu Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit. Politisches Bürger- und Selbstbewußtsein war ihm selbstverständlich. Nicht von ungefähr promovierte der Theologe Schairer, der zuvor aus Gewissensgründen aus dem Dienst der evangelischen Kirche Württembergs geschieden war, über den Dichter-Rebellen und „politischen Journalisten“ Christian Friedrich Daniel Schubart. Das hatte Bedeutung für sein weiteres Leben. Schairer wurde Redakteur in Hamburg, gegen Ende des Ersten Weltkrieges dann Chefredakteur der „Neckarzeitung“ in Heilbronn. Nach politischen Auseinandersetzungen mit dem Verleger gründete Schairer, was seinem Drang nach Unabhängigkeit entgegenkam, ein Wochenblatt, die ,„Sonntagszeitung“. Das Blatt war ein Kuriosum insofern, als es auf Anzeigen verzichtete, um sich freizuhalten von jedweden Einflüssen. Das kleine, aber rasch an Einfluß gewinnende Blatt wandte sich an nachdenkliche Leser aller sozialen Schichten. Es pflegte die kleine Form und war sprachlich durchgefeilt. Bezeichnend war folgender Satz: „Manche Leute haben es mit ihrer Bildung wie gewiße Krämer; sie präsentieren stets ihr ganzes Warenlager, um ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen.“

Politisch wandte sich die Zeitung gegen nachwirkende wilhelminische Tendenzen und neue deutschnationale Träumereien. Rasch geriet Schairer in Konflikt mit der heraufkommenden NS-Ideologie. Kaum ein Journalist hat damals so klar vorhergesagt, was die Deutschen von Hitler zu erwarten hatten. Schairer erkannte, in welchem Maße der Rundfunk dazu beitrug, Hitlers Thesen bis ins kleinste Dorf zu verbreiten. Und im Februar 1933 schrieb er hellsichtig: „Das deutsche Volk will offenbar solche Führer haben wie Wilhelm und Hitler… Wird es, kann es mit der Herrlichkeit des ‚Dritten Reiches‘ ein anderes Ende nehmen als mit der des zweiten?“ Einen Monat später wurde die „Sonntagszeitung“ verboten, dann unter strengen Auflagen wieder zugelassen. 1937 geriet das Blatt völlig unter NS-Einfluß. Schairer fristete sein Dasein als Handelsvertreter und gegen Kriegsende als Reichsbahngehilfe in Lindau, immer wieder behelligt von der Gestapo. Nach einem Neubeginn als Redakteur des „Schwäbischen Tagblatts“ in Tübingen wurde Schairer 1946 Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“. 

Er prägte diese Zeitung vor allem stilistisch. Eine klare Sprache bedeutete für Schairer klares Denken. Er richtete die Rubrik „Fünf Minuten Deutsch“ ein und pflegte sie über Jahre hinweg. Die Rubrik fand viel Anklang bei den Lesern. Auch die Redakteure der „Zeitung“ profitierten von der Schairer’schen Schule. Ältere Journalisten erinnern sich dankbar an die „Sprachliche Vermahnung für die Mitarbeiter der Stuttgarter Zeitung (und andere Zeitungsschreiber)“.

Politisch verstand Schairer die „Stuttgarter Zeitung“ als parteiunabhängiges Oppositionsblatt. Und so schrieb ein Redaktionsmitglied der frühen Jahre, nämlich Reinhard Appel, über Schairers Wirken: „Er verstand es, aus dem Blatt eine demokratische Institution zu entwickeln, die bei den Regierenden und den Regierten gleichermaßen Respekt und Einfluß genoß.“ Schairer habe ein Beispiel dafür gegeben, „daß die Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber der Macht im Großen wie im Kleinen nur dort bewahrt bleiben können, wo sie auch wahrgenommen und furchtlos verteidigt werden“. Die deutsche Teilung, gegen die er ankämpfte, sah Schairer frühzeitig voraus. In einem Leitartikel schrieb er 1947 prophetisch: „Solange der Ost-West-Gegensatz besteht, sind alle Worte von der deutschen Einheit leeres Geschwätz…“ Und so war es dann auch. 

Werner Birkenmaier 

„50 Jahre Stuttgarter Zeitung“, Jubiläumsausgabe vom 12. Sept. 1995, Seite 4