Religiöse Pause

— 1932 —

Goethe, den man wohl auch zu den „Gottlosen“ rechnen darf, war ein erbitterter Hasser des Glockenläutens. Er hieß es ein „unerträgliches Gebimmele“; er spricht im Faust vom „verdammten Läuten“, vom „verfluchten Bim-Bam-Bimmel“.

Ich muß gestehen, daß ich die Kirchenglocken am Sonntag und sogar am Werktag nicht ungern läuten höre, auch wenn sie mir nicht den Ruf zum Kirchgang bedeuten, sondern mich nur daran erinnern, daßes Sonntagvormittag oder Werktagabend ist.

Ich habe auch nicht die Abneigung gegen die Kirchen, die manche Gottlosen haben oder zur Schau tragen. Wenn ich Gelegenheit habe, trete ich gerne ein und empfinde die Kühle und Stille in den hohen Räumen als angenehme Untcrbrediung des Draußen, das lärmt oder heiß ist. Deshalb bedaure idi es manchmal, daß die Evangelischen ihre Kirchen die Woche über zuschließen, statt sie wie die Katholi schen offen zu halten.

Ich kann mir daneben vorstellen, daß viele von diesen Kirchen einmal zu Versammlungen weltlichen Charakters dienen werden und sich dazu ganz gut eignen werden. In der Schweiz z. B. werden ja die Kirchen längst zu solchen Zwecken herangezogen.

Auch die Wörter Religion und Gott brauchten, was mich persönlich betrifft, nicht abgeschafft zu werden. Es gibt „waschechte“ Freidenker, die sich an dem Gruß „Grüß Gott“ ärgern, oder an Ausdrücken wie „weiß Gott“, „in Gottes Namen“. Eigentlich dürften diese Leute auch unsere Zeitrechnung, die von Christi Geburt ausgeht, nicht mitmachen; so wenig übrigens wie die Christen „Dienstag“ oder „Donnerstag“ schreiben dürften, weil sie damit im Grunde doch einem heidnischen Götzen huldigen.

In Wirklichkeit sind alle diese Wörter und Ausdrücke so abgeschliffen, daß sie ihren ursprünglichen Inhalt längst verloren haben. Sie sind Reliquien, ehrwürdige Reste der Vergangenheit, die nur noch Altertumswert haben oder die sich inzwischen unmerklich mit neuem Inhalt gefüllt haben. Das ist das Schicksal aller Worte, und wer vor einem alten Wortinhalt zurückschaudert, der zeigt genau besehen nichts anderes, als daß er ihm immer noch eine gewisse Bedeutung beimißt.

Ich könnte von mir aus mit bestem Gewissen auch „wenn Gott will“ sagen, ja sogar „mit Gottes Hilfe“, obwohl ich doch an keinen Gott mehr glaube.

Ich würde damit lediglich ausdrücken, daß ich mir bewußt bin, daß es auf meinen Willen allein oder auf den menschlichen allein nicht ankommt, daß meine Macht und menschliche Macht überhaupt ziemlich eng begrenzt sind.

Und das Wort „Religion“, so wie Strauß oder Schleiermacher es verstehen, scheint mir sinnvoll und gut, gerade wenn man die ursprüngliche Bedeutung „Bindung“ zu Grunde legt. Ich fühle mich „gebunden“, an die Welt, von der ich ein Stück bin; ich empfinde diese Bindung sogar als Glück und Quell der Seligkeit wie eine Liebesbindung oder Blutsverwandtschaft.

Trotzdem vermeide ich es, von Gott zu sprechen, und lasse es mir gerne gefallen, für „gottlos“, sogar im üblen Nebensinne, erklärt zu werden. Auch das Wort Religion, meine ich, gehört bis auf weiteres vom Gebrauche ausgeschlossen.

Aus dem einzigen, aber triftigen Grund, weil es zu fortwährenden Mißverständnissen führt.

In einer Zeit wie der unseren, wo Altes zusammenbricht und Neues noch nicht da ist, müssen solche Mißverständnisse vermieden werden. Wer der Wahrheit dienen will, und das ist schließlich Pflicht eines anständigen Menschen, darf unter keinen Umständen den Schein begünstigen, als ob er den alten Glauben noch habe oder aufrecht erhalten wünsche. Wo die Wahrhaftigkeit in Gefahr kommt, hört die Pietät auf.

Solange das Wort „Gott“ so aufgefaßt werden kann, als ob man einen persönlichen Gott damit meine, gehöre ich also zu den Gottlosen; und solange sollte sich jeder zu den Gottlosen rechnen, der nicht mehr an den Gott der Kirche glaubt. Selbst dann, wenn dabei das andere Mißverständnis in Kauf genommen werden müßte, daß ihn gewisse Leute für des Teufels halten und für einen bösen Menschen erklären.

Solange „Religion“ die Bedeutung haben kann, die Sigmund Freud und andere dem Worte beimessen: als versuche man mit einem Gott zu verkehren, der von Menschen angebetet sein will —, solange will ich das Wort in Verruf erklären und „irreligiös“ sein, auch wenn ich mich im Stillen auf meine Art für „religiös“ halte.

Anders kommen wir nicht weiter, kommen wir nicht aus dem geistigen Sumpfe heraus, in dem wir mit diesem sogenannten Christentum stecken. Goethe hat von ihm einmal ein grobes Wort gebraucht, das heute einem Schriftsteller Gefängnis eintrüge. Und er hat ein ander mal gesagt, das „Märchen von Christus“ sei die Ursache, daß „die Welt noch zehn Millionen Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt“.

Wollen wir nicht lieber versuchen, die zehn Millionen Jahre etwas abzukürzen? Wollen wir nicht das Unsere tun, damit wir aus der großen Verlogenheit herauskommen, bei der schon so mancher „Schaden an seiner Seele genommen“ hat?

Auch wenn es dabei einige liebgewordene Gewohnheiten zu opfern gilt, einige persönliche Beziehungen, einige angenehme Stunden: das Opfer ist unvermeidlich, und es ist nicht zu groß.

Bekennen wir uns zur Gottlosigkeit; und stoßen wir uns auch nicht daran, wenn diese manchmal im Kampf der Meinungen in Formen zum Ausdruck kommt, die verletzend wirken. Geburtsvorgänge sind meistens mit unerquicklichen, ja häßlichen Begleiterscheinungen ver bunden. Wir dürfen uns davon nicht abschrecken lassen.

Es wird einmal eine Zeit kommen, wo man wieder von Gott und Religion wird reden können, ohne mißverstanden zu werden; etwa wie wir heute vom Himmel oder vom Sonnenaufgang reden. Dann wird man, denke ich, auch den ganzen christlichen Sprach- und Gedankenschatz wieder ausgraben und unbefangen verwenden, so wie es vor ein paar hundert Jahren mit dem Reich der römisch-griechischen Götterwelt geschehen ist. (Vielleicht mit alleiniger Ausnahme des „Marterholzes“, des am Kreuzesgalgen hängenden Christus, dessen Bild nur für Gemüter erträglich ist, die es gedankenlos hinnehmen können.) Die Bibel ist eine unerschöpfliche Fundgrube von Weisheit und Wahrheit; man wird sie dereinst wieder zu würdigen wissen.

Vielleicht werden sogar wieder „religiöse“ Feiern möglich werden. Aber wahrscheinlich in Formen, die wir noch nicht ahnen, die jeden falls von den heutigen grundverschieden sind, etwa so verschieden wie ein heutiger „Gottesdienst“ von einer alten heidnischen oder jüdischen Opferszene.

Einstweilen muß eine „religiöse Pause“, ein „religiöses Moratorium“ könnte man sagen, eintreten. Ohne Kirche, ohne Bekenntnis, ohne Gott und Religion.

Die Gottlosigkeit, die „gewonnene Stille und Ruhe ist nicht der Tod, sondern das Leben, das fortblüht und leuchtet, und guten Gewissens wandeln wir hindurch, der Dinge gewärtig, die kommen oder nicht kommen werden“, wie Gottfried Keller im „Verlorenen Lachen“ so gut gesagt hat.

„Gott“ ist darum nicht tot, wenn auch der Gott, der christliche Gott, dem Schicksal seiner vielen Vorgänger nicht entgehen wird.

„Gottlosigkeit“, 1932