Rudolf Augstein: Lieber Spiegel-Leser!

Rudolf Augstein. Foto: Ulrich Wienke

11.03.1964

Ich muß mal wieder das eigene Nest beschmutzen.

Kaum einer von uns, der nicht gelernt hätte, daß der Erste Weltkrieg, der den Europäern das Konzept verdarb, einer unglücklichen Verkettung von Umständen entsprungen sei. Die europäischen Nationen, mit dem Wort des englischen Premiers Lloyd George, seien „in den Krieg hineingeschlittert“. So steht es bis heute in den Schulbüchern, und so lehren uns die Senioren der Geschichtswissenschaft von Gerhard Ritter bis Hans Herzfeld.

In der Tat, da die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg nicht wohl bestritten werden kann, wäre es höchst praktisch, Deutschland wenigstens für den Ersten Weltkrieg einen Freispruch zweiter Klasse einzuhandeln, in einer Reihe mit den anderen vier europäischen Großmächten, „wegen entschuldbaren Verbotsirrtums“ gewissermaßen.

Unglücklicherweise zeigen die neuesten Forschungen, daß davon nicht die Rede sein kann. Auch der Erste Weltkrieg, wie der Zweite, ist entstanden, weil das Bismarck-Reich das ihm von seinem Gründer angemessene Korsett sprengen und eine Weltstellung mit Gewalt erobern wollte, wie sie die USA nur zwischen 1940 und 1955, und auch das nicht absichtsvoll, innehatten.

Wortwörtlich bis zum „schwarzen Tag an der Westfront“, dem 8. August 1918, an dem die Alliierten das letzte deutsche Aufgebot in die „Siegfriedstellung“ zurückwarfen, hat Deutschland die durch wirtschaftliche und militärische Faustpfänder gesicherte Vorherrschaft über den Kontinent erstrebt, von Finnland bis nach Baku am Kaspischen Meer, dazu ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialreich von der räumlichen Ausdehnung Australiens, mit Katanga als Kronjuwel.

Bis zum Zusammenbruch hat das Reich versucht, vier Großmächte auf einmal, nämlich England, Frankreich, Rußland und das verbündete Österreich -Ungarn, auf den Rang einer Macht minderer Ordnung herunterzudrücken. Im Mai 1918 noch entschied man in Berlin, Österreich-Ungarn wirtschaftlich (zu) beherrschen wie Polen und Rußland“. Die „wirtschaftliche Ausnutzung der Türkei im Frieden“ zu sichern, einschließlich der mesopotamischen Ölquellen, beschloß die Reichsleitung am 7. April 1917.

Kaiser, Kanzler und Oberste Heeresleitung hatten keinen Respekt vor dem Recht auf Heimat“ und vor dem Lebensrecht anderer Völker. Der Gedanke, daß 60 Millionen Reichsdeutsche rund hundert Millionen „Fremdvölker“ militärisch beherrschen und wirtschaftlich ausbeuten sollten, schreckte sie nicht im mindesten. Von Georgien etwa versprach sich der General Ludendorff gutes „Soldatenmaterial“: „Unsere Westfront braucht Menschen.“

Wie Hitler die Tiroler auf der Krim anzusiedeln erwog, so wollte im Ersten Weltkrieg Ludendorff auf der Krim alle Rußlanddeutschen in einem eigenen Staat („Krim-Taurien“ oder „Tatarische Republik“ genannt) zusammenfassen, wie er überhaupt alle Über-Land- und Übersee-Deutschen in heimische Siedlungsräume, die durchaus anderen Völkerschaften gehörten, zurückrufen wollte.

Sein militärischer Emissär von Lossow – auch ihm wird man 1923 während des Hitler-Putsches im Bürgerbräukeller wiederbegegnen – schrieb im Mai 1918, kurz bevor er den Satelliten-Staat Georgien gründete, mit Blick auf Aserbeidschan, das Kuban-Gebiet und den nördlichen Kaukasus: „Hier ist ein großes, reiches Land zu vergeben, eine Gelegenheit, wie sie vielleicht in vielen Jahrhunderten nicht wiederkehren wird.“ Baku, Luftlinie 3000 Kilometer von Berlin entfernt, war „das zweitgrößte Naphtha-Gebiet der Erde“.

Satelliten-Regierungen schossen 1918 unter dem deutschen Regen wie Pilze aus der Erde, ohne freie und meistens ganz ohne Wahlen. In Litauen wurde am 4. Juni 1918 als „Mindaugas II.“ ein Herzog von Urach aus der katholischen Linie König; einem rundum zur Amputation bestimmten Kongreß-Polen, das militärisch und wirtschaftlich „dauernd“ an Deutschland angegliedert werden sollte, wurde ein Hohenzollern-Prinz angedient. Prinz Friedrich Karl von Hessen, der am 9. Oktober 1918 durch das finnische Parlament zum König gewählt wurde, als einziger Schattenkönig legitim, war auch schon den Rumänen avisiert worden. Die Finnen räumten den Deutschen Marinestützpunkte ein, die Rumänen ihr Öl, ihr Getreide und ihre Eisenbahnen.

Estland, Livland und Kurland, von Rußland abgetrennt, sollten wirtschaftlich und militärisch von Deutschland beherrscht werden; in der Ukraine ließen die deutschen Herren den Hetman Skoropadski die „Jüngelchen“ des parlamentarisch-sozialistischen örtlichen Regimes abservieren – die Regierung wich dem deutschen Ruf „Hände, hoch!“ – und, machten sich sogleich ans Umnageln der Eisenbahnschienen (Der Hetman wurde später Mitbegründer des „Völkischen Beobachter“).

Erste Aufgabe der örtlichen Puppen-Regierungen war es, den Deutschen die Kontrolle über die Eisenbahnen und alle sonstigen wichtigen Verkehrswege nebst Ausbeutung der Bodenschätze zu gewährleisten. Die Häfen Nikolajew, Cherson, Sewastopol, Taganrog, Rostow und Noworossisk, alles neuvertraute Namen, sollten auch im Frieden Deutschland überantwortet bleiben.

Aber auch über den Rest des „halbasiatischen Moskowiter-Reichs“ (so Staatssekretär von Jagow 1915), der eilfertigst „Großrußland“ genannt wurde, wollte das Reich verfügen. Zwar, man hatte mit den Bolschewisten im März 1918 den Frieden von Brest-Litowsk geschlossen und sie als einziger Staat anerkannt. Aber damit hatte die Reichsleitung, wie Staatssekretär von Kühlmann scharfsinnig bemerkte, noch lange nicht dekretiert, „daß zur Abspaltung eines Randstaates die Genehmigung des Mutterstaates nötig ist“.

Wenn die „selbständige“ Ukraine weiteres Gebiet von Rußland verlangte, mußte man es ihr verschaffen. Wenn die Don-Kosaken Waffen gegen die sowjetischen Vertragspartner der Reichsregierung wollten, mußte man sie heimlich bedienen und sie anschließend unter den Schutz des Reichs stellen.

Einmarschieren mußte man auch, denn – so schrieb der Unterstaatssekretär im Außenamt von dem Bussche – den „vollkommenen Einfluß auf die wirtschaftliche Kapazität eines Landes könnten papierene Abmachungen allein“ nicht sichern. Die deutsche Beteiligung müsse, forderte Bussche, nicht nur in der Ukraine und im Kaukasus, sondern im gesamten Ostraum, „wie sie sich auch gestalten möge, nach außen hin unter Verwendung des betreffenden Staates als Kulisse“ auftreten. So war die deutsche Vertragstreue beschaffen, auf die das bolschewistische Reich in seiner Geburtsstunde stieß.

Für Restrußland selbst, „Großrußland“, forderte der Unterstaatssekretär am 14. Juni 1918: „Das russische Verkehrswesen, die Industrie und die ganze Volkswirtschaft müssen in unsere Hände kommen. Es muß gelingen, den Osten für uns auszubeuten. Dort sind die Zinsen für unsere Kriegsanleihen zu holen.“

Zuvor, am 16. Mai 1918, hatten die Vertreter der zwölf gewichtigsten deutschen Eisen- und Stahl-Konzerne den Versuch empfohlen, Eisenbahnen und Wasserstraßen im gesamten früheren russischen Reich und auf dem Balkan unter deutsche Kontrolle zu bringen. Der Deutsche Handelstag verlangte Ende 1917, daß Rußland „durch Oktroyierung entsprechender wirtschaftlicher Verträge zum Ausbeutungsobjekt gemacht werden soll“, und am 30. Mai 1918 erklärte der Reichskanzler Graf Hertling vom katholischen Zentrum: „Rußland muß unsere wirtschaftliche Domäne werden.“ Der Chef der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg, erkannte lange vor seinem „böhmischen Gefreiten“: „Rassenhaß ist der Grund unserer Gegnerschaft zu Rußland.“

Wirklicher Friede mit Rußland, so schrieb Kaiser Wilhelm im Mai 1918, nachdem er Brest-Litowsk gebilligt hatte, an den Aktenrand, „ist zwischen Slawen und Germanen überhaupt unmöglich“. Er „kann nur durch Furcht vor uns erhalten werden. Die Slawen werden uns immer hassen und Feinde bleiben! Sie fürchten und haben nur Respekt vor dem, der sie verhaut!“

Den vollständigen Text von Rudolf Augstein finden Sie hier: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46163408.html

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