Sacco und Vanzetti

— Jg. 1927, Nr. 18 —

Am 9. April 1927 sind in Boston die beiden italienischen Arbeiter Sacco und Vanzetti zum zweitenmal zum Tode verurteilt worden. Dieser Fall Sacco-Vanzetti ist ein Beispiel politischer Rechtsprechung und ungerechter Handhabung der Justiz, wie es die Fälle Dreyfus in Frankreich, Fechenbach und Hölz in Deutschland waren. Die beiden Italiener sind am 5. Mai 1920 verhaftet worden unter der Beschuldigung, am 15. April desselben Jahres zwei Angestellte einer Firma in South Braintree (Mass.) ermordet zu haben. Die beiden Ermordeten hatten Lohngelder zu transportieren und wurden vor einem Schuhladen von einer Bande, die damals in den Neu-Englandstaaten die Beraubung von Kassenboten zu ihrer Spezialität gemacht hatte, getötet. Die Bande entfloh in einem Auto mit den 15 750 Dollars, die ihr in die Hände gefallen waren.

Seit 1920 sind die beiden Unschuldigen in Haft; nach dem vor wenigen Wochen ergangenen letzten Todesurteil sollen sie in der Woche vom 10. bis 16. Juli dieses Jahres hingerichtet werden. Der Grund, aus dem sie verhaftet wurden, ist ein politischer: sie waren Anarchisten und hatten gerade in jener Zeit eine Reihe von Protestkundgebungen organisiert, in der sie gegen die amerikanische Justiz zu Felde zogen, weil der italienische Arbeiter Andrea Salsedo ohne Angabe von Gründen festgenommen und acht Wochen in Haft gehalten worden war; bis er schließlich als Leichnam wieder in Freiheit gesetzt wurde. (Auch nachträglich ist die Verhaftung Salsedos nicht begründet worden.) Sacco und Vanzetti waren also der amerikanischen Justiz sehr unbequem; um sie zu vernichten, wurde die schlecht aufgezogene Anklage wegen Raubmords gegen sie erhoben. Das Verfahren gegen sie ist die in legaler Form ausgeführte illegale Absicht, zwei Gegner korrupter Justiz zu ermorden. Ein Beispiel, das auch in europäischen Ländern seine Parallelen hat.

Es ist Sacco und Vanzetti weder irgend eine Beziehung zur Verbrecherwelt nachzuweisen gewesen, noch hat man einen Anhaltspunkt für die Auffindung der übrigen Mitglieder der Bande — die doch irgendwie zu den beiden Verhafteten in Beziehung stehen müßten — gefunden. Schon in der ersten Hauptverhandlung, 1921, haben zehn Zeugen beschworen, daß Sacco zurzeit des Mordes in Boston sich befand; noch mehr haben beeidigt, daß Vanzetti gleichzeitig in Plymouth (in Amerika, nicht in England) war. Trotzdem ist schon damals, 1921, ein Todesurteil gefällt worden. Und das, obwohl dreizehn von der Staatsanwaltschaft geladene Zeugen keinen der beiden Angeklagten identifizieren konnten, zweiundzwanzig andere Zeugen bestimmt erklärten, daß keiner der beiden am Überfall beteiligt gewesen sei. Von den fünfen, die Sacco und Vanzetti als die Mörder indentifizierten, waren drei unglaubwürdig: zwei wegen ihres Charakters und einer wegen der Widersprüche, die zwischen seiner Aussage und der anderer Zeugen bestand.

Die übrigen zwei waren zwei Mädchen, die genau einundeinviertel Sekunden lang das Auto mit der Räuberbande hatten vorbeiflitzen sehen. Diese Zeit hat ihnen genügt, um von Sacco (über Vanzetti konnten sie überhaupt nichts aussagen) eine ganze Fülle von Einzelheiten zu erkennen, z. B. daß der Mann ein wenig größer war als sie, ungefähr 140-145 Pfund wog, sauber rasiert war, dünne Wangen, dunkle Brauen, dunkles Haar, hohe Stirn, grünlich-weiße Gesichtsfarbe, gestraffte, kantige Schultern hatte, das Haar zurückgekämmt trug; daß dieses Haar „zwischen zwei und zweieinhalb Zoll lang“ war; daß er ein grünes Hemd trug und ein klar und fein geschnittenes Gesicht hatte. „Er war ein muskulöser, tatbereit (active) aussehender Mann und hatte eine starke linke Hand, eine mächtige Hand.“ Das alles in knapp einer Sekunde erfaßt? Wie man’s nimmt: in der Voruntersuchung haben die beiden Mädchen sich nicht getraut, Sacco zu identifizieren; aber einige Wochen später erklärte dann die eine, Miß Splaine, daß ihr durch „Überlegen“ die Gewißheit gekommen sei. Und die andere schloß sich ihr an.

Seit sieben Jahren sind Sacco und Vanzetti unschuldig im Gefängnis. Die Sozialisten, Kommunisten, wirklich liberalen, wirklich demokratischen Menschen vieler Länder, auch Amerikas, haben in unzähligen Protesten die Freilassung der beiden Opfer einer verkommenen Justiz gefordert: umsonst — die Bourgeoisie will ihr Opfer haben. Ihr schlägt bei diesem Justizmord auch nicht eine Minute lang das Gewissen.

1927, 18 – Max Barth

Sacco und Vanzetti sind am 23. August 1927 in Boston auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden, nachdem der Gouverneur von Massachusetts, Fuller, eine Begnadigung abgelehnt hatte.