Unsere Schuld

— Jg. 1925, Nr. 46 —

„Wir“, denen diese Zeilen gelten, das ist ein sehr erheblicher Teil des gebildeten deutschen Mittelstandes. Wenn wir am Jahrestage der deutschen Revolution darnach gefragt haben, was aus den „Revolutionserrungenschaften“ geworden ist, so hat die Antwort nur lauten können: nichts. Zwar, daß uns die deutsche Republik finanziell besser stellen werde als früher, darauf hofften wir vernünftigerweise selbst nicht; nur hätten wir gewünscht, daß die Lasten des verlorenen Krieges etwas gleichmäßiger auf alle Schultern verteilt worden wären, als es in Wahrheit geschehen ist. Aber auch die kostbarsten Güter, die uns die neue Zeit zu schenken versprach und um derentwillen gerade wir auf manche sonstigen Vorteile verzichtet hätten: Gerechtigkeit in der staatlichen Verwaltung und Freiheit der persönlichen Überzeugung, auch sie sind in der „freiesten Republik der Welt“ so stark gefährdet wie nur je in den Zeiten der Monarchie.

Es ist sehr bequem, aber weder ehrlich noch zweckmäßig, die Schuld an diesen jämmerlichen Zuständen allein außer uns zu suchen. Laßt uns etliche Jahre zurückdenken!

Wir waren gute Patrioten. Der Krieg hatte die meisten von uns schonungslos an die Front gejagt. Der „Unabkömmlichen“ gab es wenig in unsern Reihen. Warum auch? Der Staat war uns nicht verpflichtet. Und wir waren durch das bürgerliche Ehrgefühl an ihn gekettet, das er zur rechten Zeit noch dadurch zu kitzeln verstand, daß er uns in den Glorienstand seiner Offiziere erhob. So gingen wir für ihn durch dick und dünn und wehrten uns bis zuletzt gegen das Gefühl, daß er uns, daß er das ganze deutsche Volk schändlich betrogen habe, obwohl unsere Erfahrungen daheim und draußen immer eindringlicher davon zeugten. Dann kam die Revolution. Im ersten Augenblicke schien uns alles zusammenzubrechen, was bisher fest gestanden, was auch unser Leben getragen hatte. Wir glaubten den Stoß gegen uns gerichtet. Dann begannen wir zu überlegen, wurden aber auch jetzt noch von den zwiespältigsten Empfindungen gequält. Wollten wir uns, überwältigt von dem ungeheuren Glücksgefühl des Zauberwortes „Frieden“, der neuen Bewegung begeistert in die Arme werfen, so stieß sie uns im selben Augenblicke durch ihre Begleiterscheinungen, losgelassene Verbrecherbanden und geplünderte Magazine, zurück. Allerdings erkannten wir bald, daß dieses zügellose Chaos eine ganze Welt an neuen Ideen gebären wollte, deren Kühnheit und Größe unsern Herzschlag stocken ließ. Wie Frühlingsstürme umwehte es unsern Geist. Nun mußte alles hinweggefegt werden, was niedrig und häßlich im Leben gewesen war. Aber wir schauten dem Kampf der Geister untätig zu. Wir warteten darauf, daß andere uns die Freiheit brächten. Wir verstanden die flehenden Rufe der Kämpfer nicht, die uns um Unterstützung baten. Wir stellten uns nicht zur Verfügung, als es galt, die muffigen Amtsstuben von den Geheimräten zu säubern. Statt dessen machten wir billige Witze über die Schuster und Schneider als Minister und hatten ein heimliches Wohlgefallen daran, daß diese Republik, die gekommen war, ohne uns zu fragen, nun ohne uns in Nöte geriet.

Wir erkannten zu spät, daß ihre Nöte auch unsere Nöte waren. Das kühne, himmelanstrebende Dach, das sie auf den brüchigen alten Mauern aufbauen mußte, droht auch in seinen letzten Teilen einzustürzen und uns unter sich zu begraben. Können wir an einen Neubau denken? Nur, wenn wir von unten, wenn wir bei uns selbst anfangen.

1925,46
Gerhard Ott