Vaterlandsliebe

— Jg. 1923, Nr. 28 —

Der ganze Bereich des organischen Lebens unterliegt dem Gesetz der Mechanisierung. Dieses Gesetz besagt, daß jede neue Bewegungsart, jeder neue Ausdruck, zu dem die rastlos vorwärts drängende Entwicklung auf ihrem Wege gelangt, durch häufige willkürliche Wiederholung allmählich unwillkürlich, instinkthaft, mechanisch wird. Und dieses Gesetz macht einen eigentlichen geistigen Fortschritt überhaupt erst möglich. Denn nur wenn das Erreichte als abgetan und gesichert in den Hintergrund des strebenden Bewußtseins geschoben werden kann, werden dessen Kräfte zu darüber hinausgehenden neuen Leistungen verfügbar. So beobachten wir denn, daß tatsächlich alles, was der Geist — auch der individuelle — erarbeitet, alsbald in festen Formen erstarrt, die bequem aufbewahrt und weitergegeben werden können. Eine ungeheure Energieersparnis, ohne Frage! Nur leider zugleich auch ein Hindernis für eine wahrhaft freie und fruchtbare Weiterentwicklung!

Wir erkennen das am deutlichsten wohl bei der Sprache, diesem ungeheuren Speicher für überkommene Erkenntnisse. Die Formen, deren sie sich bedient, um einmal Gedachtes vor dem Untergang schützen und ohne Schwierigkeit andern vermitteln zu können, sind die Worte, und Worte sind Lautzeichen für Begriffe. In den Begriffen fassen sich nicht nur die Dinge, sondern auch bereits die ersten Urteile über die Dinge zusammen. Sie sind die zugesiegelten Notenpakete, durch deren Austausch der Gedankenverkehr der Menschen geregelt wird.

Unglücklicherweise sind diese Pakete nun aber ebensowenig wertbeständig wie bei uns die wirklichen Noten. Und daraus ergibt sich die Zwangslage, sie von Zeit zu Zeit zu öffnen und ihren Inhalt zu revidieren, ihn gewissermaßen mit dem aufgedruckten Stempel wieder in Einklang zu bringen oder umgekehrt den Stempel nach dem Inhalt abzuändern. Wird diese Kontrolle allzu lange unterlassen, so sind Irrtümer und Unstimmigkeiten die unumgängliche Folge davon. Ehe deren Ursache aber entdeckt wird, ist meistens schon viel Unheil geschehen. Und die Menschen prüfen überkommene Begriffe so ungern! Wozu denken? Die Sprache denkt für uns, wie Goethe einmal mit Recht sagt. Nur denkt sie leider oft falsch. Man muß ihr auf die Finger sehen. Sonst kommt man in Gefahr, sich Vorstellungen aufdrängen zu lassen, die mit der Wirklichkeit nicht mehr stimmen, sich für Ideale zu begeistern, die der Begeisterung nicht mehr wert sind.

Der Begriff der „Vaterlandsliebe“ illustriert diese Gefahr. Ich behaupte, sein Gebrauch in unserer Zeit ist ein Anachronismus, die Macht, die er über die Gemüter hat, verderblich, die kritiklose Anerkennung, deren diese Macht sich allenthalben noch erfreut, ein Verbrechen wider den lebendigen Geist.

Auf unseren Schulen wurden und werden die Kinder noch immer mit allen Mitteln zur Vaterlandsliebe erzogen. Indessen es ist nicht einzusehen, warum. Schon die Forderung der Liebe ist ja als Forderung unstreitig verfehlt. Aber ganz abgesehen davon: auch der Begriff „Vaterland“ selbst scheint mir sinnlos geworden. Wer von uns hat denn noch wirklichen Anteil an dem Lande, in dem er wohnt? Unsere Vorfahren hatten ihn, soweit ihnen von ihren Vätern Besitz an Äckern, Wäldern und Wiesen vererbt war. Und sie hatten darum auch allen Anlaß, dieses ihr Vaterland zu lieben, es zu sichern und zu verteidigen. Denn es gab ihnen ihre Nahrung und war die Grundvoraussetzung ihrer ganzen Existenz. Wenn es ihnen entrissen wurde, so waren sie nicht nur heimatlos, sondern zugleich bettelarm und ohne Lebensunterhalt. Der Begriff behielt auch dann noch Sinn, als sich die ersten staatsähnlichen Verbände zusammenschlossen. Denn die ursprünglichen Staaten waren alle Ackerbaustaaten. Ihr Landbesitz bildete die Summe der einzelnen „Vaterländer“, deren Besitzer solidarisch für einander eintraten. Und in dem Augenblick, wo diese Staaten mit ihren Völkern unter fremde Herrschaft gerieten, waren ohne weiteres auch alle Einzelbesitzer enteignet. Ihr Land erhielten die Mitglieder des über sie triumfierenden Stammes, die Vasallen des siegreichen Fürsten, der seine Getreuen durch solche Belehnungen desto fester an sich zu ketten vermochte. Die ehemaligen Herren aber wurden die Sklaven der neuen. Grund genug also für sie, solange sie noch wirklich Herren waren, ihr Vaterland hochzuhalten und selbst das Leben zu seinem Schutze einzusetzen.

Heut hingegen? Heute ist eine solche Enteignung des Privatbesitzes doch nur in den seltensten Fällen als Wirkung von außenpolitischen Ereignissen, d. h. also von kriegerischen Niederlagen zu befürchten. Das Staatseigentum ist für den äußeren Feind vogelfrei, das private gilt ihm in der Regel als grundsätzlich unantastbar, — zumal dann, wenn seine Besitzer für ihn einen Zuwachs zu der eigenen Bevölkerung bilden sollen. Was sich vom Standpunkt des Privatbesitzes aus ändert, ist im Grunde nur die Adresse, an die er seine Abgaben zu entrichten hat. Letzten Endes kann es ihm ja aber gleich sein, ob seine Steuern nach Berlin oder London, Wien oder Paris hinfließen.

Wenn demnach schon der Begüterte — und zwar auch der an Grundbesitz Begüterte — von einem Wechsel der Staatsoberhoheit gegenwärtig keine wesentlichen Schädigungen seiner Existenz mehr zu erwarten hat, so gilt das selbstverständlich erst recht von dem Unbegüterten und Abgabefreien. Daß etwas vorgegangen ist, merkt er eigentlich überhaupt nur an den neuen Landesfarben. Im übrigen darf er leben wie sonst, d. h. so gut, wie er es durch seine Organisation den Arbeitgebern, in deren Händen sein Schicksal ruht, abzuringen vermag. Er darf fortfahren, für die Ideale seines Standes zu wirken, darf seinen alten Vergnügungen nachgehen, darf das Land, in dem er ansässig ist und das ihm weder mehr noch weniger gehört als vordem, lieben und verehren wie früher. Wozu also da noch eine besondere Vaterlandsliebe, die ihn so teuer zu stehen kommen kann wie im letzten Kriege erst? Ich finde sie unpraktisch und einigermaßen übertrieben.

Vaterlandsliebe kann für den Besitzlosen wie für den Begüterten, der sein natürlicher Feind — ein viel natürlicherer als der äußere — ist, jetzt nur den Sinn haben, daß sie ihnen ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Stammesgenossen und eine Art empfindungsmäßiger Anhänglichkeit an die Muttersprache bezeichnet.

Nun steht es ja aber so, daß unsere politischen Staatengebilde weder mit den Volksstämmen noch den sprachlichen Einheiten gleichbedeutend sind. Und ferner liegt vor allem doch auf der Hand, daß weder das Gefühl der Verbundenheit mit den Stammesverwandten noch das der Anhänglichkeit an die Muttersprache, in der man erzogen ist, durch eine fremdrassige und fremdsprachige Obrigkeit sonderlich mehr als durch eine andere beeinträchtigt zu werden braucht. Was geht mich meine Obrigkeit an? Ich bin gewohnt, daß sie mich bevormundet, bedrückt, ausnützt und auf alle Weise einengt und beraubt. Vielleicht ist das gerade ihre Pflicht als Obrigkeit. Ich weiß es nicht und will mit ihr darüber nicht rechten. Aber wenn es ihre Pflicht ist, dann steht sie für mich eben im Range eines notwendigen Übels, und es läßt mich dabei vollkommen kalt, ob sich mir dieses Übel nun schwarzweißrot oder blauweißrot oder meinetwegen rot und blau kariert darstellt. Genug, es ist ein Übel, und weil es denn ein notwendiges Übel ist, werde ich mich so wenig wie möglich mit ihm befassen. Ist es gemütlos, wenn ich so denke? Gut, dann bin ich’s. Aber ich halte diese Gemütlosigkeit immerhin für wesentlich vernünftiger und zugleich für bedeutend sittlicher als jene gemütvolle Gesinnung, die sich durch die Gefahr einer Änderung der Obrigkeit veranlaßt fühlt, Kriege anzuzetteln, Menschen totzuschlagen, Häuser niederzubrennen. Deren Verfahrungsweise scheint mir zum mindesten kopflos.

Woran liegt es aber dann eigentlich, daß der Begriff dieser anachronistischen Vaterlandsliebe auch in unserer Zeit noch so wirksam ist? Es liegt ohne Zweifel an der — man kann es nicht anders nennen als: Denkfaulheit der meisten. Billiger als Denken ist Fühlen, und Gefühle sind immer die instinktiv gewordenen, d. h. mechanisierten Denkurteile der Vorfahren, — dieselben, die sprachlich eben in den Begriffen niedergelegt sind. Diese Gefühle sind, was unsern Fall anlangt, aber begreiflicherweise am lebendigsten noch bei denen, die in ferner Vergangenheit bei einer „Unterjochung“ des Vaterlandes allein eine Gefahr gelaufen hätten, m. a. W.: bei den Besitzenden. Und sie haben es nun verstanden, das, was sie ihre „Ideale“ nennen, auch in den Köpfen der andern wach zu erhalten und immer von neuem zu erwecken. Sie sind mit Recht äußerst entrüstet, wenn diese andern im Ernstfall dann Schwierigkeiten machen wollen, sich für ihre Ideale zu Krüppeln schießen oder glorreich hinschlachten zu lassen. „Vaterlandsloses Gesindel“ — das ist der Titel, den sie ihnen für solche Gesinnung beizulegen gewohnt sind.

Ich gestehe, daß ich selber zu solchem „vaterlandslosem Gesindel“ gehöre, ja, daß ich nicht einmal soweit Patriot bin, mich ohne weiteres mit allen Stammesangehörigen eins fühlen zu können. Denn die, mit denen durch Volksverwandtschaft verbunden zu sein ich mir als Ehre anrechnen würde, sind zu zählen. Aber ich glaube andererseits, daß der Vorwurf der „Ideallosigkeit“, der von da aus gegen mich erhoben werden könnte, doch einigermaßen zu weit ginge. Ich glaube es deshalb, weil mir die Herbeiführung überstaatlicher, durch Vernunft und Recht zu gemeinsamer Arbeit zusammengeschweißter Wirtschaftsgebiete immerhin auch ein Ideal zu sein scheint, und noch dazu ein höheres, weniger von der Entwicklung überholtes als die politische und geografische Unverletztheit des jeweiligen Vaterlandes.

1923, 28 Kuno Fiedler