Verblendet

Schairers Wahlaufruf vom 4.5.1924

– Jg. 1924, Nr. 18 vom 4. Mai – 

Neuen Katastrophen entgegen?

von Heinrich Ströbel

Die unheilvollen Kräfte, die Deutschland seit zehn Jahren ins Verderben gestürzt, rumoren unheimlich weiter. Es scheint, als ob die Masse dieses Volkes aus den blutigen und tragischen Lehren seiner Vergangenheit nicht das Mindeste gelernt habe. Vor allem nicht die Schicht, die einst selbst von sich rühmte, daß sie „Bildung und Besitz“ repräsentiere. Nicht die leiseste Erkenntnis ist ihr aufgedämmert, daß an dem Unglück Deutschlands nichts anderes die Schuld trägt, als der schrankenlos herrschende Gewaltkult, der zum Fanatismus gewordene Glaube an die Machtpolitik. Noch heute, und gerade heute wieder, sucht man die Ursache für die Weltkatastrophe und den Zusammenbruch Deutschlands überall sonst, in der Einkreisungspolitik des „Feindbundes“, in der Unzulänglichkeit der Heeresvorlage von 1912, nur nicht da, wo sie zu finden ist: in der stupiden und brutalen Vorstellung, daß Deutschland durch Waffengewalt die Vormacht in Europa an sich reißen könne. Und doch war es diese Wahnidee, die den Weltkrieg provozierte. Wie leicht wäre der europäische Frieden zu erhalten gewesen, wenn Deutschland sich mit England verständigt hätte, statt alle großen Nachbarstaaten gegen sich aufzubringen. Aber man glaubte mit der bestorganisierten Armee der Welt aller Welt Trotz bieten zu können.

Und ein Besessener dieses bewußt-militaristischen Machtwahns und während des letzten Jahrzehnts dessen sichtbarste Verkörperung war Ludendorff. Ein Soldat, der sein Handwerk vielleicht so gründlich beherrschte, wie irgend einer seiner Zeitgenossen, der aber zum Fluch seines Landes wurde, weil er alles Volks- und Völkerleben nur unter dem Gesichtswinkel des Soldaten betrachtete. Ohne jedes Verständnis für die sozialen, kulturellen und moralischen Kräfte des zeitgenössischen Lebens, dachte er nur in Divisionen, Batterien und U-Booten, in Durchbrüchen, Umgehungsmanövern und Vernichtungsstrategie. Aber da die Komponenten und Exponenten des Weltgeschehens sich nun einmal nicht auf die simple militaristische Formel bringen ließen, konnte die Rechnung Ludendorffs schließlich unmöglich stimmen. Er brachte nun alle Welt gegen Deutschland auf, entfesselte unwiderstehliche Gegenkräfte und verspielte Deutschlands Zukunft. An dem Zusammenbruch des Jahres 1918 ist er der wahre Schuldige.

Ja, die militärische Niederlage Ludendorffs wäre noch viel fürchterlicher gewesen, wenn nicht die Revolution für den schmählich geschlagenen Oberkommandierenden und seine unaufhaltsam zurückweichende, halb aufgelöste Armee die strategische Entlastung gebracht hätte. Nur die Ausrufung des deutschen Volksstaates hinderte die Entente-Mächte daran ihren Sieg militärisch bis aufs Äußerste auszunutzen und die zurückflutenden deutschen Truppen völlig zu vernichten, Franzosen und Amerikaner waren in Stärke von 50 Divisionen bereitgestellt, um östlich von Metz den tödlichen Flankenstoß gegen die deutschen Heerestrümmer zu unternehmen, ebenso viele französisch-amerikanische Truppen sollten folgen. Es war ein namenloses Glück für Deutschland, es rettete hunderttausenden Deutscher das Leben, daß dieser Angriff infolge des Waffenstillstandes unterblieb. Hätte Ludendorff diesen letzten Stoß aushalten müssen, so wäre es nicht nur um seinen Feldherrenruhm geschehen gewesen, sondern auch die blödsinnige Dolchstoß-Legende wäre ihm sicherlich im Halse stecken geblieben!

Nur weil Ludendorff, die deutsche Militärkaste und die ganze deutsche Reaktion dank einer unverdienten Schicksalsfügung vor den letzten, schmählichsten Folgen ihrer brutalen Wahnsinnspolitik bewahrt blieben, nur weil die Revolution ihnen die Konsequenzen der militärischen Niederlage, die Unterwerfung unter den Versailler Friedensvertrag usw. abnahm, konnte der nationalistische Dünkel sich nur zu bald wieder in seiner ganzen Unverfrorenheit aufblähen.

Wenige Wochen erst waren seit dem militärischen Niederbruch, seit der blamablen Abdankung und Flucht Ludendorffs vergangen, und schon regte sich in Deutschland wieder der alte Geist. Die junge Heeresmacht der Republik wurde der Leitung wilhelminischer Generale unterstellt, und gerade der sozialistische Führer, in dem der Geist des ehrlichen Bekennermutes und der Völkeraussöhnung am stärksten lebendig geworden war, Kurt Eisner, fiel von der Hand eines nationalistischen Mörders, den die chauvinistische Hetze der alten Kriegsverbrecher erst zu seiner Untat aufgestachelt hatte.

Wie sich dann im Laufe der Zeit die alte Geistesverfassung des deutschen Volkes wieder einstellte, ist ja allen Sehenden nur zu bekannt. Wir erlebten die verschiedenen Stadien der „Erfüllungspolitik“, die ja nichts war, als die systematische Nichterfüllung. Erzberger wollte noch so viel Steuern aufbringen, um nicht nur die eigenen Staatsausgaben, sondern auch die Reparationsverpflichtungen decken zu können. Aber die ganz bewußt herbeigeführte und gesteigerte Inflation, die eine märchenhafte Vermögensansammlung und die abenteuerlichste Steuerhinterziehung der Industriellen und Schieber ermöglichte, führte mit eherner Notwendigkeit zum Bankerott des deutschen Reiches und zum Bankerott der Reparationspolitik. Die Jahre hindurch beharrlich betriebene Nichterfüllungspolitik reizte die französischen Gewaltpolitiker hinwiederum zur Ruhrbesetzung an. Die Ruhrbesetzung aber entflammte erst recht den deutschen Nationalismus. Die „verbotenen“ Geheimbünde erlangten eine ungeheure Ausbreitung. Der passive Widerstand schlug häufig genug in den aktiven um. Schlageter wurde zum Volkshelden der Nationalisten und — Kommunisten!

Und hinter dem aktiven Widerstand, der sich zur Volkserhebung und zum Befreiungskrieg gegen Frankreich auswachsen sollte, standen Hitler und Ludendorff, der längst wieder das Idol aller Nationalisten, der künftige Befreier Deutschlands geworden war. Schon bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuß im Jahre 1919 hatte man ihm stürmische Ehrungen bereitet, und wie groß inzwischen seine Volkstümlichkeit geworden war, bewies ja in München neben dem Hackenzusammenschlagen sämtlicher Offizierszeugen und dem Zujauchzen der Völkischen, die aus Devotion und Revanchegeist geborene Freisprechung dieses Hauptschuldigen.

Kein Zweifel: Ludendorff hält sich noch immer für den Oberstkommandierenden des neu entbrennenden Weltkrieges und starke Teile des deutschen Volkes teilen seinen Glauben. Und die Franzosen sind eine viel zu intelligente Nation, um diese Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. Sie erkennen sie sogar früher, als manche Deutsche selbst. So sagte General Buat schon 1920 voraus, daß Ludendorff der Organisator der Konterrevolution und des Revanchekrieges sein werde. Aus seinen Gesichtszügen, dem eckigen Doppelkinn, den übermäßig starken Wangen las er die unerbittliche Willensenergie, die Härte, um nicht zu sagen die Rohheit des Mannes ab, der vor keinem Mittel zurückschrecke, das ihn zum Ziele zu führen schien, das sein unmäßiger Hochmut gesteckt habe. „Nein, gewiß“, schrieb Buat, „der gibt sich nicht in die Lage, der wird sich nie dreingeben. Wer weiß, ob es in den Unruhen, die uns die Zukunft vorbehält, keinen Platz für einen deutschen Diktator geben wird, und vielleicht sogar für einen europäischen? … Ludendorff ist der Mann, der fähig ist, die Rolle zu spielen… Wir werden noch einmal von ihm sprechen hören.“ Und Ludendorff hat sich beeilt, seinem französischen Porträtisten die Lebensechtheit seiner Zeichnung zu bestätigen.

Man kann sich deshalb vorstellen, wie das Auftreten der Hitler und Ludendorff, und wie vor allem die Freisprechung dieser Organisatoren des Revanchekrieges auf Frankreich wirken muß. Denn auch Hitler ist, durch Gewährung der Bewährungsfrist, faktisch freigesprochen worden. Wie er sich „bewähren wird“, haben ja seine Drohreden vor Gericht bewiesen. Und die Wirkung dieses Prozesses muß noch vertieft werden, durch den Ausgang des Prozesses Zeigner. Denn das unerhörte Urteil gegen Zeigner bildete nur die Ergänzung des Hitler-Ludendorff-Prozesses. Kamen die Hitler und Ludendorff straffrei davon, weil der Hochverrat gegen die Republik und die Vorbereitung zum Revanchekrieg dem deutschen Bürgertum als patriotische, gottwohlgefällige Dinge gelten, so wurde der ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsident Zeigner unter brutalster Mißachtung aller Entlastungs- und Strafmilderungsmomente zu mehrjähriger Gefängnisstrafe und zum Verluste der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt, weil seine ganze Tätigkeit der demokratischen Unterpfeilerung der Republik und der Bekämpfung der militärischen Geheimorganisationen gegolten hatte. Die unglaubliche Freisprechung in München und das skandalöse Verdikt in Leipzig erklären sich nur aus der gleichen nationalistischen Verblendung.

Daß Zeigner das Opfer des in Deutschland besonders stark entwickelten moralischen Feingefühls geworden sei — schon dieser Gedanke ist die blutigste Satire. An welches Maß von politischer Korruption haben wir uns in Deutschland gewöhnen müssen! Erzberger überragte sicherlich das Unterholz seiner Partei um ein Beträchtliches, aber daß er Politik und Privatgeschäfte in der bedenklichsten Weise vermengte, kann auch der nicht bestreiten, der seine Ermordung für die niederträchtigste Schurkerei hält. Und doch wäre dieser Erzberger längst wieder in Amt und Würden, wenn ihn nicht das Mörderblei niedergestreckt hätte. Oder ist Herr Hermes etwa dadurch zum Rücktritt von seinem Ministerposten gezwungen worden, daß ihm vor Gericht die eindeutigsten Weinkaufsgeschichten nachgewiesen wurden? Und sind nicht unlängst einem Staatssekretär und obendrein hohem Justizbeamten (Welsmann, d. R.) Dinge angehängt worden, die früher nicht ohne schwerste Folgen für den Beschuldigten oder den Beschuldiger geblieben wären?

Nur Zeigner, der unbeugsame Demokrat, der rücksichtslose Gegner der vertrags- und gesetzeswidrigen Waffenbünde, wurde niedergehetzt und durch einen Justizmord politisch und menschlich vernichtet. Ja, die nationalistische Verfolgungswut ist damit nicht einmal zufrieden: ist doch gegen Zeigner jetzt auch noch die Anklage wegen Landesverrats erhoben worden, begangen durch jene Reden im Volkshaus und im sächsischen Landtag (!), in denen behauptet wurde, daß zwischen der Reichswehr und gewissen rechtsradikalen Geheimorganisationen enge Beziehungen beständen. Unter den mehr als 1300 Landesverratsprozessen hat dieser Landesverratsprozeß gegen Zeigner gerade noch gefehlt, um dem Ausland jedes Mißtrauen gegen den deutschen Militarismus und die deutsche Mentalität einzuflößen. Erklärte doch auch die „Times“ die französische Behauptung, daß Deutschland während der durch die Ruhrbesetzung unterbrochenen Waffenkontrolle seine Kräfte für die militärische Reorganisation verdoppelt habe, für glaubhaft und darum eine scharfe Kontrolle für unbedingt geboten.

Auf der anderen Seite aber zeigt die Regierung Karr-Stresemann so wenig Entschlußkraft, den Forderungen nach einer solchen Kontrolle und den Bedingungen der Sachverständigenkommission zu entsprechen, daß wir nur zu bald wieder in die schwersten äußeren und inneren Konflikte geraten könnten. Jeder derartige Konflikt aber müßte unsere ohnehin nur provisorisch gestützte Valuta sofort wieder ins Gleiten und damit von neuem unser gesamtes Wirtschaftsleben aus Rand und Band bringen.

Nur wenige Deutsche ahnen leider, daß wieder einmal der Boden unter uns schwankt. Möchten die Wissenden den Wahlkampf dazu ausnutzen, um der völkischen Raserei rechtzeitig in den Arm zu fallen!

Siehe z.B. auch:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/erster-weltkrieg-schonungslose-analyse-der-deutschen-schuld.1270.de.html?dram:article_id=289753

https://www.sueddeutsche.de/politik/ausbruch-des-ersten-weltkrieges-1914-deutschland-und-oesterreich-sind-hauptverantwortlich-1.2061512