Warum „Sonntags-Zeitung“?

Erich Schairer (ca. 1932)

Zum Beginn des Jahres 1930 schreibt Erich Schairer:

Gerade zehn Jahre ist es nun her, da bekam ich als wohlbestallter Chefredaktör der demokratischen Heilbronner „Neckarzeitung“ wegen begründeten Verdachts sozialistischer und sonstiger radikaler Neigungen vom Herrn Verleger den Stuhl vor die Türe gesetzt. Der „Fall“ war eine Zeitlang Tagesgespräch in der Stadt, und Freunde rieten mir, diese Situation zu einer eigenen Zeitungsgründung auszunützen. Ich verpulverte einen Teil meiner Abfindung, ließ Plakate anschlagen, einen Aufruf drucken und Einzeichnungen für ein erstes Jahresabonnement sammeln. Wenn sich tausend Leser für ein Jahr verpflichten würden, wollte ich’s wagen. Sechshundert kamen zusammen, und am 1. Januar 1920 erschien die erste Nummer der „Heilbronner Sonntags-Zeitung“. Ich erklärte in einem programmatischen Einführungsartikel, diese Zeitung werde dem Geiste des Sozialismus und der Demokratie dienen, der in der angeblich sozialistischen und demokratischen Republik noch keineswegs lebendig geworden sei.

In vielen deutschen Städten sind damals solche Zeitungen gegründet worden. Fast alle sind nach kurzer Frist wieder eingegangen. Auch mir ist dieses Schicksal oft profezeit worden. Es sei unmöglich, hieß es, eine Zeitung aufrecht zu erhalten, die weder eigenes Kapital noch eine Interessengruppe oder Partei hinter sich habe, und die dazu noch verrückterweise auf Inserate verzichte.

Daß es schwer sei, wußte ich. Daß es möglich ist, glaube ich bewiesen zu haben. Gleich von Anfang an habe ich diesen meinen „Spleen“ der inseratenlosen Zeitung allerdings nicht durchgeführt. Im ersten Jahrgang hatte jede Nummer eine ganze Seite von mir höchstpersönlich acquirierter Annoncen. (Alles selber machen: das war mein Geschäftsgeheimnis, das mich neben der Anhänglichkeit und Opferwilligkeit der Leser in jenen ersten Jahren, notabene in den Inflationsjahren, über Wasser gehalten hat.) Ich hatte mir aber vorgenommen und das auch öffentlich versprochen, jedes folgende Jahr eine Viertelseite Inserate abzubauen. Das habe ich gehalten: seit dem fünften Jahrgang erscheint in der Sonntags-Zeitung kein Inserat mehr, und es wird keines in ihr erscheinen, solange ich sie herausgebe.

Warum? Das Inseratenwesen ist, wie schon Lassalle gepredigt hat, in erster Linie schuld an der Minderwertigkeit unserer Zeitungen. Wie kann ein Blatt dem öffentlichen Interesse dienen, das gleichzeitig über den Inseratenteil jedem zahlungsfähigen Privatinteresse zur Verfügung steht? Auch die sozialistische und die kommunistische Presse glaubt ohne diese unreinliche Verquickung nicht existieren zu können. Sie könnte es, wenn sie es wagen würde, sich räumlich oder zeitlich etwas einzuschränken und sich von den Lesern statt von den Geschäftemachern bezahlen zu lassen.

Die Sonntags-Zeitung ist stolz darauf, daß sie das fertig bringt. Ihre Leserzahl ist, mit Ausnahme von zwei Stockungen, in der Inflationszeit 1922-23 und während der Wirtschaftskrise 1926-27, langsam aber stetig gewachsen. Sie wird, wie ich vermute, noch weiter zunehmen.

Soll ich aus den zehn Jahren, die jetzt vergangen sind, ein paar Anekdoten erzählen? Wie ich meine Mitarbeiter fand, mit Druckereien wechseln mußte, manches richtig und vieles falsch vorausgesagt habe? Oder etwas von Gerichtsverhandlungen, Landes- und Hochverratsklagen, Haussuchungen und so? Es gäbe schon einiges, aber reden wir lieber später drüber, wenn wir einmal älter und geschwätziger geworden sind. Bloß eine kleine Geschichte will ich aufwärmen: wie der Name „Sonntags-Zeitung“, den so manche für wenig glücklich halten, ohne mein Wissen für ihr Dasein entscheidend gewesen ist.

Die „Sonntags-Zeitung“ (von Januar bis Oktober 1920: „Heilbronner Sonntags-Zeitung“, von da bis Oktober 1922 „Süddeutsche Sonntags-Zeitung“, seither nur noch „Die Sonntags-Zeitung“) heißt so aus dem gleichen Grund, aus dem eine Montags erscheinende Zeitung „Montags-Zeitung“ heißt. Aber der Name hat für manche Leute ein Nebengeschmäckchen, das ich seinerzeit absichtlich ignoriert habe. Und gerade das hat dem Blatt sozusagen in der Wiege einmal das Leben gerettet.

Damals nämlich war das Zeitungspapier noch kontingentiert. Wenn man eine Zeitung herausgeben wollte, brauchte man einen Bezugsschein von der „Wirtschaftsstelle für das deutsche Zeitungsgewerbe“ in Berlin. Am 30. Dezember 1919 hatte ich mir einen solchen erbeten und ihn ohne weiteres erhalten. Kurz darauf, als die erste Nummer erschienen war, bekam ich einen Brief dieser selben Wirtschaftsstelle, aber mit anderer Unterschrift, anscheinend von einer anderen Abteilung, in dem es hieß: für meine Zeitung sei kein Druckpapier freigegeben, ihre Herausgabe verstoße gegen das Gesetz und müsse deshalb strafrechtlich verfolgt werden. Ich erwiderte mit einem höflichen Hinweis auf die in meinen Händen befindliche Bewilligung. Und daraufhin kam von Berlin folgende köstliche Antwort: „Wie die auf Grund Ihrer gefl. Mitteilungen vorgenommenen Nachprüfungen ergaben, ist Ihnen allerdings von der für Zeitschriften zuständigen Abteilung der Wirtschaftsstelle ein Bezugsrecht auf vierteljährlich 650 Kilogramm Druckpapier zur Herausgabe einer Sonntags-Zeitung freigegeben worden. Unter der Bezeichnung „Sonntags-Zeitung“ wird von uns eine Zeitschrift religiöser oder wenigstens unterhaltender Tendenz verstanden, nicht aber ein Blatt, das, wie das Ihrige, zwar nur wöchentlich erscheint, aber politische und Tagesereignisse behandelt und deshalb den Charakter einer Tageszeitung hat. Wir wollen nicht die Feststellung unterlassen, daß Ihnen das Bezugsrecht zur Herausgabe dieser Zeitung niemals gewährt worden wäre, wenn Sie uns den wirklichen Charakter Ihres Blattes näher ausgeführt hätten.“

Für ein religiöses „oder wenigstens“ unterhaltendes Sonntagsblättchen wäre damals in der armen deutschen Republik das Papier nicht zu knapp gewesen. Aber ein Blatt wie die Sonntags-Zeitung hätten die Herren Bonzen ohne Weiteres unterdrückt, wenn sie geahnt hätten, wie es ausfallen würde.

Es gibt, glaube ich, auch heute noch ein paar Leute, die sich ehrlich freuen würden, wenn diese offenbar nicht religiöse, ja nicht einmal unterhaltende Zeitung ihr Erscheinen einstellen müßte. Ich hoffe, liebe Leser, euch ist sie unterhaltend genug und nicht zu wenig „religiös“. Wir wollen den verehrlichen Herrschaften, die mehr fürs „Religiöse oder wenigstens Unterhaltende“ sind, zum Trotze die Alten bleiben und weitermachen.

Die Sonntags-Zeitung erscheint übrigens, was noch nicht alle gemerkt haben, seit 1. Juli 1925 nicht mehr in Heilbronn, sondern in Stuttgart.

Sch.

Die Auflage der Sonntags-Zeitung

  • Mitte 1920 : 2000
  • Mitte 1921 : 3100
  • Mitte 1922 : 3900
  • Mitte 1923 : 3900
  • Mitte 1924 : 4300
  • Mitte 1925 : 5200
  • Mitte 1926 : 5900
  • Mitte 1927 : 5700
  • Mitte 1928 : 6200
  • Mitte 1929 : 6500