Wehrpflicht und Nährpflicht

— Jg. 1923, Nr. 19 —

Es ist ganz richtig, daß die allgemeine Wehrpflicht ein alter demokratischer Gedanke ist, mag er im wilhelminischen Deutschland durch Offiziersprivileg und Soldatenschinderei noch so sehr entstellt worden sein. Geht einmal in die Schweiz, die ihm ihre Existenz verdankt, oder lest wenigstens Gottfried Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten, und ihr werdet einen Begriff davon bekommen. Oder hört einmal zu, wenn alte Bauern am Sonntagnachmittag im Wirtshaus aus ihrer Soldatenzeit erzählen: ob ihr den volkstümlichen Hauch nicht empfindet, der Uniform und militärischen „Dienst“ umwittert, mögen sie noch so eng und streng gewesen sein.

Wenn viele heute sagen, mit der Wehrpflicht sei unserem Volke etwas genommen worden, nicht bloß eine Schule körperlicher Erziehung und äußeren Schliffs, sondern auch etwas Ideelles, so läßt sich das nicht so ohne weiteres zurückweisen. Und wenn der Krieg nicht gewesen wäre, dann würde es wohl nur ganz vereinzelten Schwärmern einfallen, an dem Gedanken der Wehrpflicht überhaupt zu rütteln oder ihn zu bekämpfen.

Der Krieg erst hat uns das Unsittliche des Soldatenwesens im heutigen Staate vor Augen demonstriert. Es besteht darin, daß Menschen gezwungen werden, für Ideale, die nicht die ihren sind, schlimmer noch: für Ideale und Interessen, die den ihrigen entgegengesetzt sind, ihr Leben zu opfern. Den Heldentod kann man nur für sein eigenes Ideal sterben; darum pflegen wir heute die „Helden“ des Kriegs, die in Wirklichkeit arme gemordete Schlachtopfer waren, mit Gänsefüßchen zu schreiben. Im heutigen Klassenstaat, auch wo er sich „Republik“ heißt, ist die allgemeine Wehrpflicht ein Nonsens. In ihm dürfte es nur freiwilligen Kriegsdienst geben. In ihm waren diejenigen die Helden, die — in England, in Amerika, vereinzelt auch in Deutschland — den Kriegsdienst verweigert haben. Nur in einem wirklich demokratischen Gemeinwesen, in dem es keine Klassen gibt, ist auch die allgemeine Wehrpflicht kein scheinheiliger Name für den Gipfel der Ausbeutung und Unterdrückung.

An was erkennt man aber nun eigentlich den wahren demokratischen Staat? Wagen wir eine Definition, die sehr wenig gelehrt klingt, aber dafür jedem verständlich sein wird: daran, daß in ihm niemand verhungert. Daß das Leben, das unter Umständen für die Gesamtheit als Opfer dargebracht werden soll, jedem einzelnen von eben dieser Gesamtheit garantiert wird, solange es dauert. Die logische Ergänzung des Gedankens der allgemeinen Wehrpflicht der Bürger bildet die allgemeine Nährpflicht des Staates, wie sie Popper-Lynkeus in seinem genialen Reformplan verwirklicht sehen wollte: die bedingungslose Gewährung des Existenzminimums in Nahrung, Kleidung und Wohnung an jeden Einzelnen, von der Geburt bis zum Tode, ohne Rücksicht auf persönliche Qualität, Herkunft und Leistung.

Eine solche „beitragslose Versicherung“ ist in ihrer vollen Ausdehnung nur möglich unter einer Voraussetzung: daß sämtliche Staatsbürger einen Teil ihrer Lebens-Arbeitsleistung unmittelbar der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Also der allgemeinen Arbeitspflicht, die man recht wohl mit der Wehrpflicht vergleichen und als allgemeine Wehrpflicht gegen den Mangel, den wahren „inneren Feind“, bezeichnen könnte.

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht ist Deutschland — Gott sei Dank, werden viele seufzen — durch den Vertrag von Versailles verboten. Aber könnte man ihre „demokratischen“ Vorzüge, die Erziehung und Ausbildung der jungen Männer, die Idee der gleichen Verpflichtung aller zum Dienst am Ganzen, nicht in dieser besseren und nützlicheren Gestalt wieder aufleben lassen? Könnte Deutschland nicht das entsetzliche Unrecht gegen seine enteigneten Rentner, gegen die darbenden Alten, Kriegereltern, Kriegerwitwen und -waisen, das es auf dem Gewissen hat, wiedergutmachen, indem es wenigstens einmal jedem Bürger vom 60. Lebensjahr ab seinen Lebensunterhalt garantierte und dafür einige Jahrgänge zuchtloser und verwilderter Jungmannen zum Dienst in Arbeitsbataillonen einzöge, statt sie in Hitlerbluse und Hakenkreuz Soldätles spielen zu lassen?

1924, 19 Rauschnabel