Fünf Minuten Deutsch

Redaktionssitzung im Turmhaus

Einleitung

Am 2. Oktober 1946 erschien im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung zum ersten Mal die Rubrik „Fünf Minuten Deutsch“. Ich wollte mir damit, wenn auch nur in Form eines Stoßseufzers (denn das Papier war kostbar), den Ärger über das schlechte Deutsch der Zeitgenossen von der Seele schreiben, den ich von Berufs wegen tagtäglich zu leiden hatte. An Stoff für diese kleine Sprachecke fehlte es wahrhaftig nicht, und so wurde sie versuchsweise ein paar Wochen lang aufrechterhalten. Die lieben Kollegen, die sich dabei gelegentlich selber getroffen fühlen mußten, fragten mich hie und da, ob ich nicht bald Schluß mit dieser Schulmeisterei machen wolle, und neckten mich mit den römischen Zahlen, die anfangs drüber standen und die ein Beweis dafür sind, daß ich selber an keine allzulange Dauer des Unternehmens gedacht hatte.

Aber zu meiner eigenen Überraschung ging es anders. Das Echo, das die kleinen Glossen jeweils bei den Lesern fanden, war lebhaft und wurde immer stärker. Beinahe jeden Tag kamen Briefe und Anrufe, und zwar – es ist hier wirklich keine Phrase – aus „allen Schichten der Bevölkerung“, vom hohen Beamten bis zum Dorfschultes (ein solcher war eine zeitlang mein eifrigster Mitarbeiter), von Fabrikanten, Geschäftsleuten, Arbeitern, Lehrern, Schülern, Ärzten, Anwälten, Ingenieuren, und nicht zum wenigsten auch von Frauen, und zwar nicht etwa nur beruflich tätigen Frauen, sondern von „einfachen“ Hausfrauen, die sich Zeitungsverleger sonst nur als Leserinnen des Anzeigenteils und des Romans vorzustellen pflegen. Es war mir manchmal fast zu viel des Guten, namentlich als ich an den Telefonanrufen merkte, daß ich offenbar eine Art von Autorität in sprachlichen Dingen zu werden schien und wegen aller möglichen kitzligen Probleme zu Rate gezogen wurde, etwa in der Rechtschreibung, in der ich mich selber nicht immer sicher fühlte (und für deren Verzwicktheiten ich nicht viel übrig hatte).

Heute ist es so, daß die „Fünf Minuten Deutsch“ bei Nummer 667 angelangt sind, und daß in jedem Posteinlauf einige Zuschriften an den Redakteur der „Fünf Minuten Deutsch“ liegen. Das Interesse an Sprache und Stil hält also an, und es ist viel weiter verbreitet als man zunächst glauben möchte. Ich kann es wagen, diese Sammlung von eigenen Beiträgen zur Sprachecke der Stuttgarter Zeitung herauszugeben. Manche ihrer Leser haben sie sich schon gewünscht; ich hoffe, sie werden mich nun auch nicht im Stich lassen und das kleine Bändchen verbreiten helfen.

Wahrscheinlich müßte man jetzt als die Autorität, die man geworden ist, noch etwas Tiefgründiges über die Entwicklung der Sprache von sich geben, müßte wenigstens den Niedergang beklagen, dem die deutsche Sprache in den letzten zwei Jahrzehnten offenbar verfallen ist, oder gar als Hintergrund den Untergang des Abendlands an die Wand malen. Ich kann mich nicht recht dazu entschließen. Vielleicht darf die Beliebtheit der „Fünf Minuten Deutsch“ als Zeichen dafür gelten, daß es doch nicht ganz so schlimm ist. Sonst brauchte man sich ja auch keine Mühe zu geben, jenen Niedergang aufzuhalten. Es könnte sein, daß es auch wieder einmal aufwärts geht, wenn die Trümmerhaufen weggeräumt sind, die uns Hitler und seine Gesellen auch auf sprachlichem Gebiet hinterlassen haben.

Stuttgart, Weihnachten 1951

Erich Schairer

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