Leben und Werk Erich Schairers
— StZ vom 29. Mai 1982 · Von Richard Schmid —
Es gibt eine ansehnliche Reihe von Deutschen, deren Lebenslauf und Lebenswerk für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts exemplarische Bedeutung haben. Aber bei wenigen wird das Gewebe dieser Zeit, werden die Muster darin so markant und scharf sichtbar wie bei Erich Schairer, dem Mitherausgeber dieser Zeitung von 1946 bis 1955, der im Jahre 1956 im Alter von neunundsechzig Jahren gestorben ist. Über diesen Mann ist im vergangenen Jahr unter dem Titel „Der Gratgänger — Welt und Werk Erich Schairers“ eine gut geschriebene Biographie von Will Schaber erschienen (Verlag K. G. Saur, München). Das Folgende ist teils daraus geschöpft, teils stammt es aus eigener Erinnerung und persönlicher Freundschaft. Den Verdacht, nicht ganz objektiv zu sein, muß ich hinnehmen.
Es wird sich dabei ergeben, daß das Schicksal Schairers nicht nur jene exemplarische Bedeutung für seine Zeit hat, sondern daß er überdies recht viel Besonderes und Originelles an sich hatte. Trotz aller Welterfahrung und hoher Bildung blieb er sein Lebtag ein urwüchsiger Schwabe, im Umgang und Ausdruck derb, fast rauh, von einer Art, die ihn gelegentlich im Verhältnis zu glatter abgehobelten Mitmenschen, die sich den Umständen und Zwecken besser anpaßten, in Gegensatz und Konflikt brachte. Nicht daß ihn sein in der Wolle gefärbtes schwäbisches Wesen provinziell gemacht hätte — so wenig wie etwa Ludwig Thoma durch sein Bayerntum provinziell geworden ist. Das Landsmannschaftliche gab ihm Schwerpunkt und Selbstbewußtsein.
Zuerst ein paar dürre Daten: Schairer ist 1887 als Sohn eines Schullehrers in Hemmingen, Oberamt Leonberg, geboren. Er wird Primus im „Landexamen“, jener Einrichtung, die vor allem begabten Beamtensöhnen kostenlos die evangelisch-theologischen Seminare Württembergs öffnet, humanistische Schulen, herausgewachsen aus den evangelischen Klosterschulen, die den einheimischen evangelischen Pfarrernachwuchs sichern sollen. Von der Schule im Kloster Blaubeuren, wo viel Lateinisch, Griechisch und Hebräisch betrieben wird, kommt er ans Tübinger Stift. Dort studiert er bis 1909 Theologie, wird zum Pfarrer ordiniert, wird Pfarrgehilfe (Vikar) in verschiedenen Pfarreien und an einem Lehrerseminar. Im Jahr 1911 bittet er um Entlassung aus dem Kirchendienst, weil er die Glaubensverpflichtungen nicht erfüllen könne. Die Kirchenbehörde bewilligt die Entlassung schließlich.
Schairer wird Journalist; daneben verfaßt er eine Doktorarbeit über „Christian Friedrich Daniel Schubart als politischer Journalist“. Einige Zeitgenossen werden für ihn bedeutsam: unter anderen der Philosoph Christoph Schrempf, der schon 1892 aus ähnlichem Konflikt die Kirche verlassen hat und in Stuttgart lebt und schreibt; Hans Erich Blaich, der Dr. Owlglass des „Simplicissimus“, mit dem er eine lebenslange Freundschaft schließt. Er wird Anhänger und schließlich Sekretär des demokratischen Politikers und Sozialreformers Friedrich Naumann und — neben und nach Theodor Heuss — Redakteur an der Naumannschen Zeitschrift „Die Hilfe“. Im Krieg ist er zuerst Soldat, alsdann wird er vom Auswärtigen Amt angefordert als Sekretär der Deutsch-Türkischen Vereinigung in Konstantinopel. Im Jahre 1918 wird Schairer politischer Redakteur an der „Heilbronner Neckarzeitung“, als Nachfolger von Theodor Heuss, wobei es bald zu Spannungen mit dem Verleger und zur Kündigung wegen der radikaldemokratischen Richtung Schairers kommt.
Schairer macht sich mit dem Wochenblatt „Sonntagszeitung“ zuerst in Heilbronn, dann in Stuttgart selbständig. 1933 wird ihm die Politik verboten, schließlich die journalistische Tätigkeit überhaupt untersagt. Er sucht sich und seine vielköpfige Familie als Weinvertreter durchzubringen. Im Krieg wird er schließlich dienstverpflichtet — als Fahrdienstleiter am Bahnhof Lindau. Nach dem Krieg wird er 1946 Lizenzträger und Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“.
Es sollen nun einige Stationen dieses Lebens dargestellt und dokumentiert werden, vorwiegend mit Hilfe Schairerscher Texte, wodurch nicht nur seine Gedankenwelt, sondern auch, was nicht weniger wichtig ist, seine schlichte, jeden Mode- und Bildungsschmuck verschmähende, verdichtete Sprache deutlich werden soll.
Als 1911 seine Verwendung als „Professoratsverweser“ am Esslinger Lehrerseminar zu Ende geht und er ins Pfarramt zurückkehren soll, bittet er um seine Entlassung: „Da ich es mit meiner persönlichen Überzeugung nicht mehr vereinigen kann, die von mir seinerzeit leichtsinnigerweise übernommene und während meiner früheren kirchlichen Amtstätigkeit bereits mehrfach verletzte Verpflichtung für den Dienst an der Evangelischen Landeskirche Württembergs wieder auf mich zu nehmen, so bitte ich das Konsistorium, mich aus diesem Dienst entlassen zu wollen.“
Zur Begründung gibt er den Wortlaut der von ihm beschworenen „Augsburger Konfession“ wieder und sagt: „Als ich, frisch von der Hochschule weg, im Sommer 1909 als ‚Pfarrgehilfe‘ verpflichtet und in der Eßlinger Stadtkirche feierlich ordiniert wurde, machte ich mir über den Inhalt dieser Verpflichtung kaum Gedanken, obwohl ich das Augsburgische Glaubensbekenntnis kannte. Ich hatte es nicht allzulange vorher fürs Examen großenteils auswendig gelernt, natürlich ohne es nur einen Augenblick für mich selber anzunehmen. Dreieinigkeit, Erbsünde, Menschwerdung des Gottessohnes, Opfertod, Höllenfahrt, Auferstehung, Wiederkunft, ewige Verdammnis, Verwandlung beim Abendmahl — alles das war für mich Aberglaube, im besten Fall Symbol, aber nicht ‚wahrhaftig‘. Ich hielt den Glauben an diese ‚Heilstatsachen‘ auch wirklich bei der Ausübung des Pfarramts nicht für entscheidend. Aber als ich dann mein Amt auszuüben begann, da kam ich bald in eine böse Zwickmühle. Einerseits war ich verpflichtet, bei den Amtshandlungen dauernd jene Sätze, die für mich Formeln waren, in den Mund zu nehmen, und getraute mich nicht, das zu unterlassen; andererseits hütete ich mich in Predigt und Unterricht sorgfältig, etwas zu sagen, was ich nicht vor mir selber vertreten konnte. So kam ich mir beim Aussprechen der liturgischen Formeln des Glaubensbekenntnisses und dergleichen mehr und mehr als ganz kläglicher, charakterloser Pfaffe vor, als Schauspieler, der seinen Spott mit dem trieb, was anderen heilig war.“
Der hohe Geistliche des Konsistoriums versucht, Schairer das Gesuch auszureden und sich vorerst mit einem Urlaub zu begnügen. Aber Schairer besteht auf der Entlassung.
Seine Meinung über das Pfarramt legt er einige Zeit später in einem Briefwechsel mit einem Pfarrer nieder, der die menschlichen Beziehungen und Verpflichtungen des Pfarramts nicht aufgeben will, aber den dogmatischen und obrigkeitlichen Zwang nicht verträgt und der nun Schairer fragt, was er tun solle. Dem rät er: Du mußt aus der Kirche heraus, aber Pfarrer bleiben. Er gibt ihm Ratschläge, wie er sich mit dem Kirchengemeinderat verständigen soll über die Weiterführung des Amtes nach dem Austritt. „Eine Dorfkirche bleibt stehen, wo sie steht; die wird auch wohl das Konsistorium nicht wegtragen.“ Der Briefwechsel ist wohl irreal, aber verständig und verständlich. Ich würde ihn in diese Darstellung nicht aufnehmen, wenn sich nicht in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Kirchenleitung noch durchaus auf Anpassung an das Regime bedacht war, in Württemberg ein entsprechender Fall wirklich ereignet hätte: der Kirchengemeinderat eines Dorfes bei Vaihingen an der Enz hat einem Pfarrer, der aus politischen Motiven der Kirchenbehörde ungehorsam gewesen und von ihr entlassen worden ist, seine Kirche samt Pfarrhaus zur Ausübung des Pfarramts überlassen. Das war der Fall des Pfarrers Paul Schempp, nach dem Krieg Professor an der Universität Bonn; Näheres darüber in dem Buch von Professor Ernst Bizer „Der Fall Schempp“, erschienen 1965.
Im übrigen hat der Konflikt des Klosterschülers, Stiftlers und Vikars Schairer auch eine interessante historische Parallele. Es ist der Fall des Balinger Vikars Karl Friedrich Reinhard, geboren 1761 in Schorndorf. Auch der hat den Drang zur Publizistik und veröffentlicht einen satirischen Artikel über die Klosterschule und das Stift, muß fliehen, als seine Verfasserschaft bekannt wird, wird Hauslehrer in Frankreich, tritt dort in den diplomatischen Dienst, zuerst der Republik, alsdann Napoleons, dann der Könige und wird schließlich Pair von Frankreich und, eine noch höhere Auszeichnung, Goethes hochgeachteter Freund, Gast und Korrespondent.
Der Gegenstand der Schairerschen Doktorarbeit ist Schubarts „Deutsche Chronik“, die ihrem Verfasser die zehnjährige Haft auf dem Hohenasperg eingetragen hat. Schairer untersucht darin die Gründe, aus denen die politischen Ideen und Bewegungen in Frankreich und Nordamerika während der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland zwar von einzelnen literarisch ergriffen wurden, aber nicht in die Breite drangen:
„Jetzt wäre der geeignete Moment für das Entstehen einer politischen Presse dagewesen. Das Material für einen politischen Anschauungsunterricht in großem Stil war geliefert. Aber es zeigte sich, daß die Lehrkräfte versagten. Ideen in sich tragen und Ideen verbreiten, Denken und Schreiben ist nicht ein und dasselbe; und Menschen, die das Gehorchen so gut gelernt hatten, denen das Unterworfensein so in Fleisch und Blut übergegangen war — wo hätten sie die Kühnheit hernehmen sollen, nun auf einmal frei von der Leber weg zu schreiben und keine Rücksicht zu nehmen? Und den Fall gesetzt, der Wille dazu wäre wirklich vorhanden gewesen — so fehlte die Macht. Denn alle die Herrschenden in Deutschland, bis herunter zum kleinsten Abt und Reichsbaron, zählten unter ihre selbstverständlichen Privilegien die unbeschränkte Aufsicht über das geschriebene (gemeint ist auch: das gedruckte) Wort.“
Im August 1914 bricht der Krieg aus. Die demokratische Verspätung Deutschlands ist immer noch so stark, daß Parlament und öffentliche Meinung politisch so gut wie machtlos und leicht über die wahren Kriegsursachen und die Situation Deutschlands irrezuführen sind. Schairer meldet sich freiwillig als Soldat. Sein verehrter Chef und Freund Friedrich Naumann entwickelt sich vom demokratischen Sozialreformer zum Imperialisten. Es ist die Zeit der Bagdad-Bahn-Pläne. Schairer wird vom Kriegsdienst wegreklamiert und wird Sekretär der Deutsch-Türkischen Vereinigung in Konstantinopel, der Hauptstadt des großen und schwachen Osmanischen Reichs. Zeitweise macht Schairer Redaktionsarbeit an deutschen Zeitungen, zuerst in Hamburg und schließlich an der „Neckarzeitung“ in Heilbronn. Er bewegt sich, was den Krieg betrifft, auf der offiziellen patriotischen Linie: es handele sich um einen „uns aufgezwungenen Verteidigungskrieg“. Noch Anfang September 1918 glaubt er an den Sieg, wie fast alle schmählich belogenen Deutschen. Den Zusammenbruch 1918 erlebt er in Odessa. An Weihnachten 1918 ist er zu Hause und tritt als politischer Redakteur in die „Neckarzeitung“ ein.
Nun treten wieder sozialreformerische Ideen, Planwirtschaft, der Schutz des kleinen Mannes und des Konsumenten in den Vordergrund. Von Naumann hat er sich gelöst. Schon während des Kriegs ist er auf die Reformideen Wichard von Moellendorffs gestoßen, Oberingenieur bei der AEG und Mitarbeiter Walther Rathenaus. Diese Beziehung führt zu lebhafter literarischer Mitarbeit und auch zu persönlichen Kontakten mit Rathenau. Es handelt sich um Entwürfe einer unmarxistischen deutschen Gemeinwirtschaft unter Beteiligung der Arbeiter und Angestellten — Strebungen, die in den Jahren nach dem Umsturz von 1918 die öffentliche Diskussion beherrschen und die sich auch in einigen Artikeln der Weimarer Verfassung und in der Schaffung des Reichswirtschaftsrats niedergeschlagen haben. Es wird in der Praxis nichts daraus, weil das reaktionäre Bürgertum bald wieder im Parlament und vor allem auch in der Presse die Oberhand gewinnt. Walther Rathenau, Präsident der AEG, einer der ganz großen Unternehmer, hat gar in einer Schrift, die er Schairer zur Veröffentlichung übergibt, die Abschaffung des Unternehmers zugunsten der im Betrieb Tätigen gefordert.
Schairer schont, nachdem der Zusammenbruch und die Revolution neue Erkenntnisse und Verhältnisse geschaffen haben, das alte monarchische Regime nicht. Das führt bald zu Spannungen mit dem Verleger, der gleichzeitig ein deutschnationales Blatt herausgibt. Im Bürgertum regen sich bald wieder die Sympathien mit den alten Gewalten und Gestalten. Anlaß zu einem akuten Konflikt ist ein Korrespondenzbericht über die Vernehmung eines der übelsten Scharfmacher der Kriegszeit, des früheren Staatssekretärs des Reichsschatzamtes, Karl Helfferich. Der hat bei seiner Vernehmung vor dem Reichstagsausschuß, der die Politik der kaiserlichen Regierung zu untersuchen hat, eine perfide Variante der Dolchstoßlegende dargeboten: schuld an der Niederlage sei, daß die U-Boot-Waffe nicht unbeschränkt eingesetzt worden sei. Dem Bericht über diese Vernehmung will Schairer folgende redaktionelle Bemerkung vorausschicken:
„Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß kam es gestern bei der Vernehmung Helfferichs zu lebhaften Auseinandersetzungen. Helfferich ist als Redner sehr temperamentvoll (man erinnert sich noch an jene Situation im Reichstag, wo sein unverschämtes Auftreten dem damaligen Staatssekretär allen Kredit raubte); er ist ein geschickter und mundfertiger Debatter, den keine allzuschweren Gewissens- oder Charakterskrupel belasten. Nach dem Grundsatz ‚Die beste Parade ist der Hieb‘ hat Helfferich gestern den Stiel umzudrehen und gegen seine heutigen Ankläger vorzugehen versucht… Interessant mag bei der Sache noch die Teilnahme des Publikums sein, das sich demonstrativ auf die Seite der … Säulen des alten Regimes stellte und vor dem Reichstagsgebäude mit schwarz-weiß-roten Fahnen aufmarschiert war, um Hindenburg und Ludendorff zuzujubeln, die dann freilich nicht erschienen.“
Diese beiden erscheinen dann in der nächsten Sitzung und wiederholen die Lüge vom Dolchstoß.
Die Schairersche Vorbemerkung kratzt sein Verleger ohne Wissen und Einwilligung Schairers aus der Druckplatte heraus; das Blatt erscheint mit einer weißen Lücke auf der ersten Seite.
Dieser Vorgang hat inzwischen historische Perspektive gewonnen. Drei Monate später bricht der Kapp-Putsch aus. Die Dolchstoßlüge ist, neben der Judenhetze, der Hauptschlager der Hitlerschen Propaganda von Anfang an. Der Weg zum Dritten Reich ist damals beschritten worden.
Für Schairer ist der Bruch mit der Zeitung damit vollzogen. Er entschließt sich, ein eigenes Organ, eine politische Wochenschrift, herauszugeben. Die erste Nummer erscheint schon im Januar 1920; es ist die „Heilbronner Sonntagszeitung“. Inserate sollen anfänglich die Unkosten decken helfen, aber allmählich, im Interesse der Unabhängigkeit, abgebaut und schließlich abgeschafft werden. Letzteres ist schon 1924 erreicht. Im Jahr 1925 ziehen Schairer und das Blatt nach Stuttgart. Der Absatz steigt stetig von zweitausend Exemplaren (1920) bis auf achttausend (1932). „Die Sonntagszeitung“, wie sie nun heißt, ist im ganzen Reichsgebiet verbreitet, allerdings kaum in Bayern. Was das Programm, den Umfang, die Themen und Tendenzen, die Mitarbeiter, das Verhältnis zu den Lesern betrifft, so sei auf die faktenreiche Darstellung in der Schaberschen Arbeit verwiesen. Die Richtung geht deutlich nach links, aber ohne Bindung an eine Partei oder ein Dogma und mit ausgeprägter sozialer Note. Das Thema Plan- und Gemeinwirtschaft tritt allmählich zurück zugunsten des schlichten Konsumenten- und Lohnarbeiter-Interesses. Erwähnt sei, daß die besondere Begabung des jungen Josef Eberle (Pseudonym „Tyll“) für die politische Verssatire durch Schairer für die „Sonntagszeitung“ entdeckt und gepflegt wird. Zum Profil der Sonntagszeitung tragen auch die drastischen Holzschnittkarikaturen von Hans Gerner bei.
Zwei Farben der politischen Palette Schairers treten besonders hervor: erstens die Lehre aus dem Schock des Kriegsendes, das ihm gezeigt hat, wie wichtig die freie Unterrichtung der Öffentlichkeit, die Unabhängigkeit der Presse von staatlicher und sonstiger Macht und die demokratische Kontrolle der Regierung sind, woraus im Fall Deutschland speziell ein scharfer Antimilitarismus und Pazifismus folgen; zweitens: der Kampf gegen den immer weitere, auch kirchliche Schichten befallenden Antisemitismus. Dieser Kampf zieht sich durch alle Jahrgänge der „Sonntagszeitung“. Dazu sei nur ein Satz des langjährigen Mitarbeiters Hermann Mauthe zitiert: „Das Christentum wurde von einem Juden begründet und der neudeutsche Antisemitismus von einem Hofprediger.“ (Gemeint ist der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stöcker.)
Das Verhältnis zur NSDAP ergibt sich aus alledem von selbst. Daß die „Sonntagszeitung“ nach der „Machtergreifung“ nicht überhaupt verboten, sondern daß im April 1933 nur eine Nummer beschlagnahmt wird, wird darauf zurückgeführt, daß einer der Stuttgarter Machthaber eine persönliche Regung zugunsten Schairers verspürt. Es wird ihm aber sofort die Befassung mit der Tagespolitik verboten. Bald häufen sich von außerhalb Württembergs die Beanstandungen. Schairer verschafft sich einen der Partei genehmen Redakteur, um nominell auszuscheiden. Er versteht es bis 1937, als er das Blatt ganz aufgeben muß, in einigen Rubriken die Leser versteckt kritisch zu unterrichten. Für viele bleibt die „Sonntagszeitung“ hochbegehrte Wochenlektüre. Besonders ergiebig sind die volkswirtschaftlichen Wochenartikel des Mitarbeiters „Fritz Werkmann“, hinter dem sich ein illegal in Deutschland lebender, von der Gestapo gesuchter Sozialist H. von Rauschenplat verbirgt, der schließlich emigriert und nach dem Krieg unter dem neuen Namen Fritz Eberhard zurückkehrt, Intendant des Süddeutschen Rundfunks wird, alsdann Professor an der Freien Universität in Berlin. Der teilt den Lesern in einer mit Statistiken garnierten Abhandlung zum Beispiel mit, daß eine der ersten Regierungsmaßnahmen — außer der Einrichtung der KZ und der Entlassung von Nichtariern — die Abschaffung der Sektsteuer gewesen sei und wie daraufhin der Sektkonsum (wessen?) so enorm gestiegen sei oder (in der Nummer vom 20. September 1936) wie die neue Regierung die Preiskartelle der Industrie und des Handels begünstige und daß diese Preiskartelle naturgemäß preiserhöhend wirkten. Diese verbraucherfeindliche Preispolitik hat sich übrigens noch lange in die Bundesrepublik fortgesetzt; es ist mühsam gewesen, die dadurch begründeten Preisbindungen abzubauen.
Im selben Jahr 1936 (Nummer vom 26. Januar) erscheint ein kurzer Artikel des philosophischen Mitarbeiters Kuno Fiedler (übrigens auch ein wegen dogmatischen Ungehorsams 1922 aus der lutherischen Kirche Sachsens ausgeschiedener Theologe), eines nahen Freundes von Thomas Mann. Dieser Artikel enthält einige gewagte Wendungen zugunsten Thomas Manns, dessen bitterer Konflikt mit den Nazis längst ausgebrochen ist, dessen Münchner Haus bereits von der SS okkupiert ist und dessen Ausbürgerung noch im selben Jahr verfügt wird. Allerdings wird schon im September dieses Jahres Kuno Fiedler von der Gestapo verhaftet, weil er, so wird ihm erklärt, mit der „Spionagezentrale“ des Thomas Mann zusammenarbeite. Fiedler gelingt eine abenteuerliche Flucht aus dem Gefängnis; womit wir wieder zu Erich Schairer zurückkehren. Denn auf der Flucht in die Schweiz findet Fiedler zuerst Zuflucht im Schairerschen Haus in Sulzgries bei Esslingen und Geld für die weitere Reise. Er wird von Frau Schairer nach Allensbach am Bodensee gelotst, wo der befreundete Maler Marquard eine bescheidene Pension am Seeufer betreibt. Mit Schairer ist ein Stichwort vereinbart, mit dem sich Flüchtige melden sollen, um ans Schweizer Ufer zu kommen. Das geschieht. Am 27. September ist Fiedler schon, wie Thomas Mann seinem Bruder Heinrich schreibt, in Zürich bei ihm. Derselbe „wackere Tell“ (so Thomas Mann) hat übrigens kurz darauf, von mir nach Allensbach geschickt, den Stettiner Fritz Lamm in die Schweiz gerudert, der vielen Stuttgartern und besonders Angehörigen der „Stuttgarter Zeitung“ in Erinnerung sein wird.
Erich Schairer ist nach dem Krieg achteinhalb Jahre lang Mitherausgeber und Gesellschafter dieser Zeitung gewesen. Seine Energie mag durch die bösen Erlebnisse der Hitlerzeit gelitten haben. Zudem war er nur einer unter mehreren. Es war klar, daß das größere und vielfältige Unternehmen nicht nach dem Muster seiner alten Schöpfung, der „Sonntagszeitung“, betrieben werden konnte, die auf ihn zugeschnitten war. Es war nötig, Kompromisse zu schließen. Aber er hat doch eine Tradition der Unabhängigkeit der Zeitung schaffen helfen, die auch dem Außenstehenden nicht entgeht. Vor allem aber hat er, wie ich glaube, mit der ihm eigenen Gabe und mit großer Mühe für eine saubere und klare Sprache gearbeitet, was, wie mir scheint, noch unvergessen und wirksam ist. Zwar gibt es „allzumal Sünder“, und seine zwölf Sprachgebote, die er den Mitarbeitern hinterlassen hat, werden nicht immer befolgt, aber doch respektiert. Seine Rubrik „Fünf Minuten Deutsch“, auch als Büchlein erschienen, hat weit in die Leserschaft hineingewirkt.
Erich Schairer hatte, so barsch und derb er manchmal im Umgang sein konnte, als Journalist jene wahre und höhere Höflichkeit, die sich in den Leser hineindenkt, sich dessen Begriffsschatz und Fassungsvermögen vergegenwärtigt, anstatt wie manche andere mit schicken Modewörtern oder aparten Fremdwörtern zu imponieren und auf Sprachstelzen zu gehen. Er verabscheute das, was ein anderer großer Meister der Einfachheit, Ernest Hemingway, die „Zehn-Dollar-Wörter“ genannt hat; und er brachte den Mut zur Banalität auf, um auf alle Fälle klar zu sein. In einer alten Nummer der „Sonntagszeitung“ habe ich folgenden Ausspruch Schairers gefunden: „Manche Leute haben es mit ihrer Bildung wie gewisse Krämer: sie präsentieren stets ihr ganzes Warenlager, um ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen.“ Und aus „Fünf Minuten Deutsch“ sei folgendes schöne Beispiel aus einem Wirtschaftsteil zitiert: „Ein Fremdwörterprotz. Die Ursache des geringen Bauvolumens ist die Diskrepanz zwischen Baukosten und Miete.“ Schairer übersetzt das so: „Daß so wenig gebaut wird, kommt daher, daß die Baukosten hoch und die Mieten niedrig sind.“
Damals, vor dreißig Jahren, war „Diskrepanz“ schick. Heute sind’s andere Stelzen. Schairer hat uns gelehrt, aufzupassen, auf andere und auf uns selbst.
Leben und Werk Erich Schairers — ein Artikel von Richard Schmid in der Sonntagsbeilage der Stuttgarter Zeitung „Die Brücke zur Welt“ vom Samstag 29. Mai 1982
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