Mathematische Romanze

In einer warmen Sommernacht konnte man in einem der Ankreise eines rechtwinkligen Dreiecks leise schmelzende Akkorde vernehmen. In dem Dreieck wohnte nämlich unter Obhut ihrer Tante Kontangens das Fräulein Tangens, und eben brachte ihr Don Sinus ein Ständchen auf einer Ellipse, über die vier Parallelen gespannt waren. Er lehnte sich schwärmerisch an den Radius c des Kreises und sang etwa folgendes:

„Der Inhalt des Kreises ist r Quadrat pi
O Tangens! ich lieb dich, ach wüßtest du, wie!
Der Inhalt des Dreiecks a h durch 2,
O süßeste Tangens, ich bleibe dir treu!“

Ein leises Rauschen ging durch die Lüfte und ein messingner Reißnagel warf sein mildes Licht über die Szene. — Der Sinus hatte sein Lied beendet. Fräulein Tangens war im Winkel auf einer Transversale am Fenster gesessen, öffnete es jetzt, ergriffen von dem rührenden Volkslied, und warf dem Ritter eine wunderschöne Quadratwurzel hinab, die Don Sinus entzückt beroch und an den Busen steckte. Dann legte er die Hand aufs Herz und entfernte sich mit edlem Anstand, dem Mittelpunkt des anbeschriebenen Kreises zu.

Kaum aber war er einige Schritte gegangen, da stürzte hinter einem dunklen Logarithmusbusch sein Nebenbuhler Cosinus hervor, einen scharfgeschliffenen Bruchstrich in der Hand. Sinus wollte seinerseits vom Leder ziehen, sah sich aber ohne Waffen und verteidigte sich verzweifelt mit einer Mantisse, die er aus dem Logarithmusbusch riß; doch bald unterlag er dem besser bewaffneten Cosinus, der ihn im Zorn zu lauter Proportionalteilchen zerhieb. Dann pfiff dieser gellend durch seine Finger, worauf aus allen Winkeln gedungene Sekanten hervorkamen, die das rechtwinklige Dreieck in Brand steckten und die alte Kotangens zuerst an einem Strahlenbüschel aufspießten und dann mit einer eckigen Klammer totschlugen. Die jammernde Tangens aber riß Cosinus aus den Flammen, setzte sie in ein reguläres Sechseck, das mit zwei Radikanden bespannt war und fuhr mit der Schnelligkeit einer geometrischen Prozession davon. Er ruhte nicht, bis er im vierten Quadranten angelangt war; da sah er erst seine Torheit, denn bekanntlich wird die Tangens im vierten Quadranten sogleich negativ. Sie konnte sich also ungesehen entfernen, irrte zu den Trümmern ihres rechtwinkligen Dreiecks zurück, und als sie dort die verstümmelte Leiche des Sinus fand, stürzte sie sich schweigend von der Peripherie des einbeschriebenen Kreises herab.

So waren Sinus und Tangens im Tode vereint. Man legte sie anderntags in einen prismatisdien Raum und begrub sie unter gedämpfter Musik in einer körperlichen Ecke. Ein regulärer Tetraeder bezeichnet heute noch ihr Grab.

Beitrag des 16jährigen Erich Schairer zur Weihnachts-Kneipzeitung 1903 der Blaubeurener Seminaristen.