— Stuttgarter Zeitung, Jg. 1952, Nr. 52 —
Conseil de I’Europe? fragte der Grenzpolizist im Zuge in Kehl mit wohlwollendem Lächeln, als ich ihm meinen Paß hinstreckte. Conseil de l’Europe? fragte auch der Zöllner und verzichtete darauf, daß ich meinen Koffer öffnete. Der Europa-Rat, an dessen dritter Session, zweitem Abschnitt, ich Ende November 1951 teilzunehmen im Begriff war, freilich nur als Zuschauer und Zuhörer, schien bei den französischen Sicherheitsbeamten gut angeschrieben zu sein. Das gab einem fürs erste ein kleines warmes Gefühl ins Herz: vielleicht ging es jetzt doch voran mit Europa; die Idee war offenbar nicht bloß bei der Jugend populär; es war eigentlich allerhand, daß sich sogar national staatliche Gehaltsempfänger dafür erwärmten. Wird am Ende — so dachte ich, als der D 314 über den Rhein fuhr — wird vielleicht auf dem Münster in Straßburg die grün-weiße Europa-Fahne flattern, wenn ich es jetzt nach so vielen Jahren wiedersehe?
Auf dem Münster flatterte die blau-weiß-rote Trikolore. Denn gerade am Tag vor der Eröffnung des Europa-Rats, dem 25. November, hatten die Straßburger zufällig etwas anderes Wichtiges zu feiern: den Tag der Befreiung und die Einweihung eines Denkmals für ihren Befreier, General Leclerc, der einmal den „Schwur von Kufra“ getan hatte, nämlich er werde nicht ruhen, bis er die Farben Frankreichs auf dem Straßburger Münster wehen sehe. Der Satz ist in den Obelisken auf dem Broglie-Platz eingemeißelt, an den sich der steinerne General jetzt lehnt, beide Hände auf die Flügel von Siegesengeln gestützt. Was Wunder, daß nun die Farben, an denen sein Herz hing, auch in Wirklichkeit auf der Spitze des Münsters da sein mußten! Die Straßburger spüren darin anscheinend keinen Widerspruch zur Europa-Idee, also wollen auch wir so etwas nicht behaupten.
In den Schaufenstern und an vielen Häusern der Stadt stieß man denn auch auf die berühmte „Unterhose“, wie die neue Europa-Flagge leider nicht mit Unrecht genannt wird: es ist ein grünes E auf weißem Grund, und die optische Wirkung dieses wahrscheinlich von einem braven Studienprofessor ersonnenen, höchst unglückseligen Symbols ist nun einmal die konträre: einer weißen, einer meist schmutzig-weißen Unterhose auf grünem Rasen. Armes Europa, sie sollten eine bessere Visitenkarte für dich erfinden!
(Auch das alte Europa-Wahrzeichen des österreichischen Grafen Coudenhove, das rote Kreuz in der goldenen Scheibe auf blauem Grund, dem man dazwischen begegnet, ist ein bißchen langweilig, finde ich.)
Im Europa-Palast
Der Europa-Palast, die Maison du Conseil de l’Europe, wie der bescheidenere französische Name lautet, liegt am Nordostende der alten Stadt, gegenüber den Parkanlagen der Orangerie, des einstigen Besitzes der Kaiserin Josephine. Man hat für Bauwerke dieser Art, die in kürzester Zeit hingestellt werden mußten, aber doch repräsentabel sein sollten (das Bundeshaus in Bonn ist auch so eines), den witzigen Ausdruck „Palastbaracke“ geprägt. Sie erinnern trotz architektonischer Schönheit, die man auch diesem Haus nicht absprechen kann, und trotz modernem Komfort im Innern verdächtig an die Stiftshütte des Alten Testaments oder an ein Zirkuszelt, das über Nacht aufgeschlagen worden ist, um ebenso rasch im Lauf einer Nacht wieder abgebrochen zu werden. Vor dem Eingang flattern bei gutem Wind die bunten Flaggen von fünfzehn europäischen Staaten, deren Abgeordnete sich hier versammeln; und die Garnison von Straßburg stellt zur höheren Würde dieser Versammlung ein halbes Dutzend militärischer Posten in dunkelblauem Tuch mit weißem Lederzeug, weißen Stulpen und weißen Gamaschen, aber ohne Ober- und Untergewehr (man gestatte den altertümlichen Ausdruck).
Der große Sitzungssaal, den man betritt, nachdem man seinen Ausweis gezückt hat, strahlt im Neonlicht, und an den roten Sesseln der Abgeordneten, aber auch an den etwas bescheideneren Sitzen auf der Pressetribüne hängen die Kopfhörer und Detektoren, mit deren Hilfe man die Reden nach Belieben auf französisch oder auf englisch konsumieren kann. Die Wände sind, wohl der Akustik wegen, mit Ledertafeln bespannt. Als ich mir eben ausgerechnet hatte, wie viele hundert Rindshäute man wohl dazu gebraucht habe, sagte mir jemand, es sei Kunstleder. Hinter dem Präsidententisch erblickt man als einzigen Wandschmuck außer einer Uhr ein Relief, mit dessen Enträtselung sich der Besucher während allzulanger Parlamentsreden die Zeit vertreiben kann. Unter einem korallenartig verästelten Baum liegen zwei nackte Frauengestalten. Die linke, wohlfrisiert, ruht auf dem rechten Bein und dem rechten Ellbogen; sie schlägt die linke Wade über die rechte und hält mit der Linken ein Bündel Ähren (oder einen Blumenstrauß? nein, es sind doch Ähren!) in die Höhe. Die rechte Figur, mit wirrem Haar und abgewandtem Gesicht, hält in der Rechten eine Fackel; der Mund ist geöffnet, als schreie sie, und die Haltung scheint anzudeuten, daß sie wegschwimme oder wegfliege. Es sind Allegorien für Frieden und Krieg, wie ich mir habe erklären lassen, und ihr Sinn ist offenbar, daß der Europa-Rat, der darunter tagt, dem Frieden eine Ruhestatt bereite und den Krieg verscheuche. Wird er das tun? Ach, man möchte es so gerne hoffen, aber es ist nicht ganz leicht, sich dieser Hoffnung hinzugeben und sie festzuhalten, wenn man ein paar Sitzungstage lang den Verhandlungen beiwohnt und sich dabei auch noch einfallen läßt, daß dieses europäische Parlament ja nur ein Rumpfparlament ist, und nicht nur das, sondern auch daß es ein reines Scheinparlament ist: es kann ja gar keine Beschlüsse fassen, die von irgendwem ausgeführt werden müßten, sondern nur „Empfehlungen“ geben. Es ist also nur eine Attrappe, oder, wenn dieser Ausdruck zu schroff klingen sollte: eine Demonstration, die Demonstration eines (fast hätte ich gesagt: frommen) Wunsches.
Gewiß: eine hübsche Attrappe, eine Demonstration, die zunächst nicht ganz ohne Eindruck bleibt. Es ist wirklich eine Art europäischer Versammlung, die man hier vor sich hat, denn die etwa 120 Abgeordneten sitzen nicht nach ihren Ländern getrennt wie die Delegierten der UN, sondern in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Namen bunt durcheinander, Belgier, Holländer, Franzosen, Deutsche, Italiener, Engländer, Skandinavier, Griechen, Türken (die gehören also auch noch zu Europa, stellt man fest); so sitzt z. B. die charmante Schottin Lady Tweedsmuir zwischen einem Griechen und einem Türken, die Isländerin Fräulein Thorsteinsdottir zwischen zwei Franzosen, der deutsche Sozialdemokrat Mommer zwischen einem Italiener und einem Franzosen, und so fort. Es ist eine europäische und es ist eine erlesene Versammlung, das sieht man schon an den Köpfen, noch ehe man sich aus dem topographischen Plan des Sitzungssaales orientiert hat; es wimmelt nur so von ehemaligen und heurigen Ministern, Präsidenten und Parteiführern, von Namen, die man aus der Zeltung kennt: Crosbie, Daladier, Delbos, Foster, Koenig, Layton, McLean, Maxwell Fyfe, Mollet, Norton, Reynaud, Spaak, Teitgen, Tsaldaris; Carlo Schmid, Luise Schröder, Rechenberg, Pünder, Ollenhauer, Gerstenmaier, Brentano. Wenn alle diese Männer den leidenschaftlichen Willen zur „Integration“ Europas hätten und wenn sie ihn einstimmig zum Ausdruck brächten, auch nur in diesem Rumpf- und Scheinparlament: müßte das nicht wie ein Sturm über Europa brausen, der alle nationalen Bedenken und Eigensüchte hinwegfegt! Aber leider Gottes geht es in dieser „Assemble consultative“ ganz ähnlich zu wie in irgendeinem anderen Landtag; die Reden sind mit wenigen Ausnahmen nach dem Schema „Ja — aber“ gebaut, so daß man vor lauter Klugschwätzerei zu keinem „Ja — also“ kommt; und auch hier begegnet man der parlamentarischen Unart, die in allen solchen Versammlungen zu beobachten ist: wenn sich irgendein kleinerer Mann zum Wort gemeldet und noch keine zehn Sätze gesprochen hat, beginnt ein Teil der Kollegen aufzustehen und wegzulaufen. Kann man es dem Mann auf der Straße eigentlich übel nehmen, wenn er sich auch von dieser „Schwatzbude“ enttäuscht sieht und nichts mehr von ihr erwartet?
Das Münster
Strasbourg, la capitale de I’Europe — Straßburg, die Hauptstadt Europas, kann man auf Plakaten und Prospekten in der elsässischen Hauptstadt heute hie und da lesen. Es ist eine, sagen wir höflich: propagandistische Übertreibung, die niemand ernst nimmt, so wenig wie etwa die lapidare Inschrift auf dem Denkmal eines Herrn Wurtz bei der Eglise St. Pierre le Jeune: La chimie est une science francaise. Ich möchte mich korrigieren: die beiden Behauptungen sind nicht gleichwertig. Zwar ist Straßburg nicht die Hauptstadt Europas, das es noch nicht gibt, und wird es wahrscheinlich auch nie werden, wenn Europa einmal Wirklichkeit werden sollte; aber immerhin kann Straßburg von sich sagen, daß es, wenn nicht die europäische Hauptstadt, so doch eine europäische Stadt sei — und wäre es nur seines Wahrzeichens wegen, aus dem man noch in tausend Jahren feststellen könnte, was Europa eigentlich war, auch wenn sonst nichts von Europa übriggeblieben wäre. Ich meine das Münster.
Ich bin kein Kunsthistoriker und kann deshalb nicht beschreiben, was für Merkwürdigkeiten gerade diese eine von vielen alten Kirchen in Europa aufweist. Wahrscheinlich kann überhaupt niemand sagen, worin der besondere Zauber dieses Bauwerks besteht. Vielleicht gelüstet es jemand, nachzulesen, was der junge Goethe, dem als Sohn seiner Zeit Gotik ein Greuel war, bis er das Straßburger Münster gesehen hatte, einmal darüber geschrieben hat (Von deutscher Baukunst, 1772). Ich kann nur sagen, daß es auch mich schon als jungen Mann ergriffen und jetzt wieder als alten Knaben überwältigt hat, als ich vor ihm stand. Ich möchte seinen Eindruck fast unheimlich heißen. Es ist wie etwas Gewachsenes, Lebendiges; ich habe das bei keiner anderen von all den gotischen Kathedralen, die ich gesehen, so im Innersten empfunden. Neben ihm sind sie alle, Notre Dame, Reims, Chartres, Amiens, Freiburg, Köln, bloße Architektur. Dies aber ist ein Berg, ein Gebirge, ein Stück Schöpfung, ein Wunder. „Une des sept merveilles du monde“, liest man im Haus Kammerzell zu seinen Füßen, und das ist nun wirklich keine Übertreibung. Was für ein ärmliches Machwerk sind unsere heutigen „repräsentativen“ Gebäude, auch wenn etwas länger daran gebaut worden ist als am Europa-Palast, neben diesem Haus, das zweieinhalb Jahrhunderte gebraucht hat, bis es — unfertig blieb! Könnte man sich vorstellen, daß es einen zweiten Turm hatte? Daß es „freigelegt“ würde, wie es ein banausisches Geschlecht mit so vielen anderen gotischen Domen gemacht hat?
Im Querschiff des Münsters, am berühmten Engelspfeiler, haben sich in einer Zeit, wo das offenbar noch erlaubt war, allerlei fremde Besucher verewigt, indem sie — ohne Zweifel manchmal in stundenlanger Arbeit — ihre werten Namen in den Stein gruben, z. B. Herr Samuel Beyer, Leipzig 1664. Ein barbarischer Unfug. Aber ich gestehe, daß es mich ein wenig gelüstet hat, mich ebenfalls einzuritzen, so wie ein Verliebter sich nicht entblödet, seine Initialen in die Rinde eines Waldbaums zu graben, unter dem er sein Mädchen geküßt hat.
Eine Weinstube
Nicht weit vom Straßburger Münster, in der Rue des Orfèvres, der Goldschmiedegasse, liegt die Wynstub zuem Heilig Grab. So steht es auch heute noch auf ihrem Schild; nur ganz klein liest man darunter die Übersetzung: Débit de vins St. Sépulcre. Wer wissen möchte, was für Leute in Straßburg leben, wer sozusagen die Atmosphäre der Stadt kennen lernen möchte (und notabene, das Organ dafür hat!), dem rate ich, diese kleine Kneipe in einem alten Haus und in einer alten Gasse zu besuchen. Nicht etwa die Gerwerstub, Haus Kammerzell oder La bonne Auberge („The newest and best Grillroom in Town“), Lokale, die gewiß auch ihre Vorzüge haben: Kellner im Frack oder in beinahe elsässischer Tracht, eine ellenlange Speisekarte voll leckerer Gerichte, eine stolze Weinkarte mit sämtlichen großen Marken von diesseits und jenseits des Rheins. Auch nicht das Hühnerloch, das zwar weibliche Bedienung hat und auf volkstümlich aufgemacht ist, in dem aber allzu viele Honoratioren verkehren und das ebensogut in Stuttgart, Freiburg, Mannheim oder Frankfurt liegen könnte. Das „Heilig Grab“ hat nur einen einzigen, niederen und winkeligen Gastraum, der mit vierzig Gästen schon beinahe überfüllt, also von abends an bis Mitternacht meist überfüllt ist. Ich saß an einem Ecktisch, auf dem ein ziemlich schmutziges Tischtuch lag, was mich aber merkwürdigerweise nicht unangenehm berührte. Dieser Tisch hatte von vornherein meine Sympathie, denn er war nicht etwa rund, quadratisch oder rechteckig, sondern hatte die Form eines unregelmäßigen Vierecks: die eine Schmalseite war etwa dreißig Zentimeter länger als die ihr gegenüberliegende, weil nämlich die Ecke, in der er stand, nicht rechtwinklig, sondern stumpfwinklig war. Eine Weinkarte gibt es im Heiligen Grab nicht; die Weinsorten, die ausgeschenkt werden und die der Wirt selber oder seine Frau an den Tisch bringt, sind mit Seife auf den Spiegel geschrieben. Es gibt fünf oder sechs elsässische Landweine, Neuen und Alten, der teuerste, aber immer noch billige, ist ein Gewürztraminer, der meistgetrunkene ein „Zwicker“; das Wort bedeutet, daß hier zweierlei Traubensorten verschnitten sind. (Sind es besonders gute Sorten, sagt man Edelzwicker.) Wer nicht „leer“ trinken will, kann sich ein Tartarbrot bestellen, eine rote Wurst mit Essig, Öl und Zwiebeln, zu gewissen Zeiten auch einen Zwiebelkuchen, den sie dort aber ein wenig anders machen als bei uns, daher er auch den würdigen französischen Namen Tarte d’oignons trägt. Ich habe mir das alles schmecken lassen, dazu die Weine durchprobiert, mich pudelwohl gefühlt und mit den Nachbarn am Tisch gut unterhalten. Das Getränk wird viertelliterweise bestellt und in einer hübschen kleinen Karaffe serviert, nebst einem geschliffenen Achtel- oder Dezigläschen ohne Fuß. Diese Gläser gefielen mir so gut, daß ich mir den kleinen Laden am Marche neuf verraten ließ, wo man sie kaufen kann, und mir ein Dutzend davon als Reiseandenken mitnahm.
Ich habe mich gefragt, warum der Wein im Heiligen Grab oder im Lion vert — einer ähnlichen Kneipe In der Petite rue de l’Eglise, noch viel kleiner, mit Tischen aus Kirschbaumholz — so gut schmeckte und warum man so viel davon trinken konnte, ohne am andern Tag mit Kopfweh aufzuwachen. (Obwohl er, wie die Wirte mir selber verrieten, gezuckert sein soll.) Vielleicht hing es damit zusammen, daß man dort den Wein noch aus dem Faß schenkt, wie es auch bei uns vor dreißig, vierzig Jahren gewesen ist. Er wird wohl nicht so viel mit Kaliumpersulfit und anderen Chemikalien „gepflegt“ wie in fortgeschritteneren Gegenden und hat sich die Kastration durch das EK-Filter nicht gefallen lassen müssen. Die Elsässer sind uns gegenüber anscheinend etwa eine Generation in der „Kultur“ zurück, und das verleiht dem Aufenthalt bei ihnen gewisse Reize, die jüngere Leute hierzulande gar nicht kennen und ältere wohl oder übel entbehren müssen. Sogar das „Defense de cracher“ in den Straßburger Trambahnwagen rechne ich zu dieser liebenswürdigen Rückständigkeit. Bei uns ist heute keine derartige Aufforderung mehr nötig, weil wir hygienisch „einfach viel weiter“ sind. Aber auch die Hygiene hat ihre zwei Seiten, und das Wort steril hat eine verdammte Doppelbedeutung. Womit ich freilich nun nicht etwa sagen möchte, man solle in der Bahn auf den Boden spucken.
Foie gras und Choucroute garnie
Das Wort Straßburg löst, wahrscheinlich nicht nur bei mir, zunächst die Assoziation „Münster“ aus. Bei anderen aber, das weiß ich, lautet die erste Gedankenverbindung: Gänseleberpastete. Die Gänseleber scheint in der Tat eine große Rolle in dieser Stadt zu spielen und ist eine lohnende Ausfuhrware. In den Schaufensterauslagen der Krämer, der Feinkost- und Fleischwarengeschäfte ist sie in Terrinen und Dosen der vorstechende Artikel; als getrüffelte Pastete paradiert sie auf allen Speisekarten. Wer nach Straßburg kommt, muß Gänseleber essen, sonst ist er nicht dort gewesen.
Nun, mein Geschmack ist Gänseleber nicht. Mir ist ein Stück Ochsenfleisch lieber als dieses süßliche schmierige Zeug, das die Leute für eine Delikatesse halten. Übrigens würde vielleicht manchem, der sich daran ergötzt, der Appetit vergehen, wenn er wüßte, daß es eigentlich eine kranke Leber ist, die er sich da einverleibt, und daß der Weg zu ihr über eine üble Tierquälerei führt.
Dafür hatte ich mich auf ein anderes spezifisch elsässisches Gericht in Straßburg gefreut: auf eine Choucroute garnie. Es war eine Enttäuschung, trotz bester Garnierung mit Fleisch, Würstchen und Leberklößen. Die Grundlage dieses Essens ist und bleibt eben doch das Sauerkraut, und das kochen die Elsässer auch nicht viel besser als unsere schwäbischen Köchinnen, nämlich zu fett und zu lang. (Immerhin sparen sie wenigstens das Mehl dabei.) Ich hab’s in einem halben Dutzend von Wirtshäusern probiert, in einfachen und in feinen, aber geschmeckt hat’s nirgends recht. Das Glas Wein oder Sekt, das man hineinschüttet, rettet den Fall nicht. (Sauerkraut können anscheinend außer den Pfälzern nur die Bayern richtig machen, deren Küche man sonst nicht viel Gutes nachsagt; das beste hab‘ ich vor langen Jahren einmal im Hofbräuhaus in München bekommen.)
Franzosen oder Deutsche?
Der Streit, ob die Elsässer nun eigentlich Franzosen oder Deutsche seien, kommt mir ein bißchen lächerlich vor. Es sind französische Deutsche oder deutsche Franzosen. Ihre Sprache, das Elsässer Dütsch, ist ein alemannischer Dialekt; übrigens lange nicht so sehr mit französischen Brocken durchsetzt, wie es in Witzen und Anekdoten oft dargestellt wird. Im „Heilig Grab“ und im „Lion vert“ habe ich in Stunden kaum einmal einen französischen Satz gehört. Oft ist mir’s am Anfang geschehen, daß ich jemand auf der Straße oder in der Tram französisch anredete und auf deutsch Antwort bekam. Nur die Buchhandlungen scheinen sich für verpflichtet zu halten, ein französisches Gesicht zu wahren. Nicht einmal einen deutschen Reiseführer habe ich bekommen, obwohl ich vier, fünf Läden abklapperte. Aber in den Kiosken auf der Straße gibt’s deutsche Lektüre. Und in den „Dernieres Nouvelles d’Alsace“, die man dort kauft, ist nur der Zeitungskopf französisch, der übrige Inhalt ist fast durchweg deutsch. Das Blatt soll eine Auflage von 150 000 Stück haben, davon 120 000 in Deutsch, und unter der französischen Auflage mit 30 000 Stück sind wahrscheinlich viele unbezahlte Exemplare. Aber die Elsässer, das ist sicher, sind trotz ihrer Sprache keine deutsche Irredenta. Deutschland hat sie seit 1871 wiederholt so dumm und so böse behandelt, daß sie kaum Heimweh nach ihm haben werden. Merkwürdigerweise habe ich aber auch keinen Haß getroffen und jedenfalls nie zu spüren bekommen.
Ein kleiner Ladenbesitzer, bei dem ich am Tag meiner Abreise noch etwas Reiseproviant kaufte und mit dem ich ins Gespräch kam, erzählte mir, daß er in Deutschland im KZ gewesen sei. Aber er war dadurch nicht etwa zum Deutschenfeind geworden. Er gab deutlich zu verstehen, daß er — trotz seinen persönlichen Erfahrungen — Brutalität und Rücksichtslosigkeit nicht für nationale Eigenschaften der Deutschen halte. Und an die Deutschen verraten habe ihn damals ein — Elsässer.
Hüben und drüben seien Menschen, sagte mein braver Epicier (der sich weigerte, einen Überpreis zu nehmen, obwohl er wegen meines kleinen Reisefläschchens eine große Flasche Quetsch hatte anbrechen müssen), und warum man denn nicht unter demselben Dach Europa beieinander leben könne? Als der Europa-Rat nach Straßburg gekommen sei, habe man ihn mit Enthusiasmus begrüßt und gehofft, nun werde manches anders werden. Inzwischen habe man leider seine Hoffnungen wieder zurückstecken müssen.
„Zu viel Egoismus, zu wenig Idealismus“ — so formulierte dieser letzte Straßburger, mit dem ich damals sprach, sein Urteil über den Europa-Rat. Sollte er recht haben?
Stuttgarter Zeitung, 1952, 52
Zur Geschichte der Europaflagge siehe auch hier: