Sprachliche Vermahnung

f-meinhard-redaktionskonferenz

für die Mitarbeiter der Stuttgarter Zeitung (und andere Zeitungsschreiber)

1. In Überschriften und bei kurzen Meldungen, die einen abgeschlossenen Tatbestand mitteilen, soll kein Imperfekt (die Zeitform der Erzählung!) verwendet werden, Also: Mussgay hat sich erhängt, nicht: Mussgay hängte sich. Clemenceau ist zum Präsidenten gewählt worden, nicht: wurde zum Präsidenten gewählt.

2. Die Zeitform der Vorvergangenheit, also eines Geschehens, das gegenüber einem anderen vergangenen Geschehen weiter zurückliegt, ist das Plusquamperfektum. In einem erzählenden Bericht über einen Empfangstag beim Papst darf es also nicht heißen: der Papst empfing darauf einige Geistliche, die aus Albanien ausgewiesen wurden, sondern ausgewiesen worden waren.

3. Nach den Zeitwörtern des Aussagens, Glaubens, Meinens, Denkens wird im allgemeinen der Konjunktiv des Präsens gesetzt, nicht der Vergangenheit. Er sagte, er sei krank, nicht: er wäre krank. Nur wenn der Konjunktiv des Präsens gleich lautet wie der Indikativ, nimmt man an seiner Stelle das Imperfektum, um ein Mißverständnis zu vermeiden. (Er sagte, ich hieße Hans.)

4. Nachdem ist ein Bindewort, das nur zeitlich gebraucht werden sollte, nicht begründend (statt da oder weil), eine Unsitte, die gegenwärtig aufkommt: „Nachdem die Waschmaschine so billig ist, können wir uns auch einen Staubsauger anschaffen.“

5. Das Eigenschaftswort in prädikativer (aussagender) Stellung wird nicht gebeugt. Es heißt also nicht: der Anblick ist ein trauriger, sondern: der Anblick ist traurig.

6. Das rückbezügliche Fürwort steht in Hauptsätzen unmittelbar hinter dem Zeitwort, in Nebensätzen gleich hinter dem ersten Satzteil. Bald begannen sich Menschen auf der Straße anzusammeln. (Nicht: Bald begannen Menschen auf der Straße sich anzusammeln.) Der geistige Zustand, in dem sich das deutsche Bürgertum um die Zeit des Kriegsendes befand. (Nicht: in dem das deutsche Bürgertum um die Zeit des Kriegsendes sich befand.)

7. Vorsicht mit „um zu“. Ein Satz mit um zu ist nur möglich, wenn Hauptsatz und Nebensatz dasselbe Subjekt haben. Er ging in die Stadt, um einzukaufen. Aber nicht: Er ließ den Arzt rufen, um ihm eine Spritze zu geben. Bei brauchen bitte das „zu“ nicht vergessen! Man sagt: er braucht das nicht zu wissen, nicht: er braucht das nicht wissen.

8. Man hüte sich vor Übertreibungen und Superlativen, wie sie in der vergangenen Zeit geblüht haben (dazu gehören auch Wörter wie gigantisch, unerhört, unglaublich, phantastisch). Ganz abscheulich ist es „mit“ beim Superlativ zu verwenden. „Das ist ein gutes Buch“ genügt anscheinend nicht, das beste oder eines der besten Bücher wagt man auch nicht zu sagen; man nimmt den Superlativ wieder zurück und schreibt: „mit eines der besten Bücher“. Damit glaubt man zwei Klippen umschifft zu haben und ist glücklich bei einem ebenso häßlichen wie nichtssagenden Ausdruck gelandet.

9. Anscheinend und scheinbar nicht verwechseln! Dieses Paar ist „scheinbar glücklich“ bedeutet etwas ganz anderes als: „ist anscheinend glücklich“.

10. Gebrauchen Sie einfache Zeitwörter, und sparen Sie die Hauptwörter, vor allem die auf -ung! Sagen Sie beweisen statt unter Beweis stellen, verzichten statt Verzicht leisten, untersuchen statt einer Untersuchung, unterwerfen und so weiter. „Es gilt nach wie vor die Anordnung, wonach in die Ernennungsurkunde der Lehrerinnen die Bestimmung aufzunehmen ist, daß ihre Verheiratung die Aufhebung ihrer Anstellung zur Folge hat.“ Dieser Satz würde in gutem Deutsch etwa lauten: „Lehrerinnen, die neu angestellt werden, sind darauf hinzuweisen, daß sie aus dem Amt gehen müssen, wenn sie heiraten.“

11. Sagen Sie nicht Großteil, sondern großer Teil, nicht Frischfische und Frischmilch, sondern frische Fische und frische Milch. Und zwar nicht ab sofort, sondern von jetzt an, also vom 21. September an, nicht ab 21. September.

12. Vermeiden Sie, wenn Sie es können, Modewörter aus der Hitlerzeit (oder auch schon etwas ältere) wie: Garant, Aggression, Sektor, Ausmaß, im Zuge, Einsatz, aufziehen, aufzeigen, absinken, ausrichten, gestalten, betreuen, erfassen, tragbar, restlos, einmalig, voll und ganz, seitens, hundertprozentig, zweifelsohne und noch ein paar Dutzend andere solcher Blüten einer bösen Zeit, die unsere Sprache nicht reicher und nicht schöner gemacht haben.

Betrachten Sie bitte diese Aufzählung von Sünden nicht als vollständig. Lassen Sie sich dadurch anregen, ihr Gewissen zu erforschen; vielleicht werden Ihnen noch andere einfallen.

1950