— Mai 1948 — Eine Art Predigt —
Immer öfter beschleicht mich neuerdings der ketzerische Gedanke, daß der Mensch nicht die Krone der Schöpfung, sondern eine Fehlkonstruktion sei, zum Untergang bestimmt wie die Saurier der Jurazeit, weil er nicht imstande ist, sagen wir es gerade heraus: weil er zu dumm ist, sich den (von ihm selber!) veränderten Lebensverhältnissen einer neuen Erdperiode anzupassen.
Auch die Saurier sind wahrscheinlich ziemlich dumm gewesen. Diese Vermutung drängt sich auf, wenn man auf den um das Gerüst gefundener Knochen gezeichneten Bildern die winzigen Köpfchen betrachtet, von denen jene Fleischberge dirigiert worden zu sein scheinen.
Sie finden, lieber Leser, daß der Mensch ganz anders aussehe. Aber Sie dürfen jetzt nicht an den einzelnen Menschen denken, der seinerzeit noch mit den Drachen gekämpft hat und dabei Sieger geblieben ist. Den einzelnen Menschen gibt es im Bereich unserer Erfahrung längst nicht mehr. Es gibt den Menschen nur noch als Kollektiv, auch wenn noch so viel von der Persönlichkeit die Rede ist. Überlegen Sie sich doch einmal, woher die Kleider kommen, die Sie anhaben, das Auto, in dem Sie fahren, sogar das Brot, das Sie essen. Zwischen dem zum Riesenorganismus angewachsenen Kollektiv Mensch und dem Brontosaurus lassen sich nun aber allerlei verdächtige Parallelen ziehen, vor allem die der zu kurz geratenen Intelligenz.
Nicht wahr, Sie verstehen mich recht: ich meine nicht Ihre private, persönliche Intelligenz, von der ich eine sehr hohe Meinung habe, sondern Ihre Einsicht als Stück eines sozialen Körpers, das Sie sind, als Teil Ihres Volkes, Ihres Staates, Ihrer Staatenföderation oder, wenn Sie erlauben, der Menschheit.
Der Mensch als Einzelwesen, denken wir etwa an Robinson, ist ein sehr kluges Geschöpf; aber sobald er mit andren Menschen zusammenleben muß, beginnt seine Klugheit anscheinend zu versagen, und zwar umsomehr, je größer die Masse wird, die ihn umgibt. Es ist, als ob sein geistiger Horizont im selben Maße kleiner würde, in dem seine Entfernung vom Nebenmenschen abgenommen hat.
Wenn auf jeden Quadratkilometer Boden nur ein einziger Mensch entfiele, wäre die menschliche Welt wahrscheinlich in Ordnung; vielmehr sie bedürfte keiner besonderen Ordnung. Je dichter die menschliche Bevölkerung wird, desto nötiger wäre die Ordnung. Aber die Menschen können das nicht einsehen. Sie möchten ihre Freiheit, ihre Ellbogenfreiheit nicht aufgeben, auch wenn am Tisch der Erde, der sich nun einmal nicht ausziehen läßt, jetzt doppelt und dreifach so viele Gäste sitzen als noch vor ein paar Menschenaltern. Sie vermehren sich lustig weiter, aber jeder möchte dabei am liebsten so leben, als ob er allein da wäre.
Das Seltsamste dabei ist der Umstand, daß das Rezept für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschheit längst allgemein bekannt ist. Es heißt: Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Wenn es befolgt würde, wären sämtliche sozialen und politischen Probleme wie mit einem Schlage gelöst. Aber die Menschen lieben einander eben nicht, sondern sind sich herzlich gleichgültig.
Da man sich, wie wir gestehen wollen, zur Liebe nicht zwingen kann, könnte man vielleicht versuchen, an ihre Stelle eine moralische Übereinkunft zu setzen, wonach jeder den anderen wenigstens gelten lassen müßte, etwa nach dem Grundsatz: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Ohne Zweifel eine vernünftige und durch alte Erfahrung erprobte Regel. Theoretisch wird niemand an ihr zu rütteln wagen. Aber in der Praxis pflegt sie mit umso größerem Zynismus durchbrochen zu werden, je höher auf der Stufenleiter der Verantwortung die handelnden Personen stehen und je umfassender die Interessen sind, die dabei in Betracht kommen. Sonst könnte es zum Beispiel keinen Krieg mehr geben — der klare Beweis dafür, daß der Mensch dumm ist.
Nach dem Kriege von 1914 bis 1918 hat jemand ausgerechnet, daß die Kriegskosten ausgereicht hätten, jeder Familie in den beteiligten Völkern ein wohleingerichtetes Häuschen in einem Garten zu schenken. Aber wahrscheinlich hätte man einen Minister, der einen solchen Vorschlag statt des Krieges gemacht hätte, in eine Heilanstalt geschickt. Den Mann, der fünfundzwanzig Jahre später den zweiten Weltkrieg anfing, haben seine Landsleute, und nicht bloß diese, lange für einen großen Staatsmann, für ein Genie gehalten. Er war, mit einem Wort, dumm. Aber er war keine Ausnahme. Der Mensch ist dumm.
Nun leben wir in der Pause zwischen dem zweiten und dem dritten Krieg.
Es wird auf zwei Seiten eifrig gerüstet, damit er nicht ausbreche. Man erwartet infolgedessen seinen Ausbruch in drei, sieben oder zwölf Jahren. Er wird schätzungsweise die halbe Welt in Trümmer legen. Die andere Hälfte wird nachher beginnen, sie aufzuräumen. Vielleicht wird man die Trümmer das nächste Mal auch liegen lassen. Wenn der Mensch nicht dumm wäre, dann hätte er längst merken müssen, daß Kriege auch dem Sieger mehr schaden als nützen. Er ist es, der die Kriegsentschädigung zu leisten hat, wenn der Unterlegene bankrott ist; genau wie man nach einem gewonnenen Prozeß unter Umständen das Vergnügen hat, auch den gegnerischen Rechtsanwalt bezahlen zu dürfen. Daß der moderne Krieg kein antiker Zweikampf mehr ist in dem der Lebenstüchtigere die größere Chance hat übrig zu bleiben, sondern eine umgekehrte Auslese, bei der gerade die Besten zugrunde gehen, könnten auch die akademisch gebildeten Kreise allmählich gemerkt haben.
Seit man Bomben vom Himmel auf die Zivilbevölkerung abwirft, werden allerdings auch die Schwachen vernichtet; ein Verfahren, an dem sich unsere Großväter vermutlich noch gestoßen hätten.
Die moderne Technik wird gerne als Beweis der hohen menschlichen Intelligenz betrachtet. Aber gibt sie nicht dem Menschen, und zwar nicht nur im Kriege, immer wieder Gelegenheit, seine Dummheit zu zeigen?
Er könnte sich mit ihrer Hilfe das Leben auf Erden zwar nicht zum Paradies machen (das liegt irgendwo anders), aber doch recht behaglich und bequem gestalten. Statt dessen schindet er sich nach wie vor. Er arbeitet etwa doppelt so lange als er es nötig hätte; und viele von den Arbeitern, die zu menschlichen Automaten versklavt sind, müssen noch froh sein, wenn sie überhaupt arbeiten dürfen.
Gute Ernten sind mehr gefürchtet als Mißernten, weil man den Überfluß dann auf irgend eine Weise vernichten muß, während gleichzeitig anderswo Hungers gestorben wird. Auf den Gedanken, daß man den Segen der Erde an seine Mitmenschen verschenken könnte, ist bis jetzt niemand gekommen. Seien wir offen: wir sind zu dumm dazu.
Mit den Schätzen der Erde, die keineswegs unendlich sind, so wenig wie die Erde selber es ist, wird ein fröhlicher Raubbau getrieben. Holz, Kohle, Eisen, was es auch sei, wird ohne Rücksicht auf spätere Geschlechter ausgebeutet und sorglos verschwendet. Wälder werden vernichtet, Tiere und kindliche Völker werden ausgerottet — nach uns die Sintflut!
Wie es scheint, ist der Raubbau diejenige Form des Wirtschaftens, die dem menschlichen Charakter am ehesten entspricht. Aber für eine Menschheit von zwei Milliarden, die noch weiter Kinder und Kindeskinder zeugen will, ist er eine gewissenlose Torheit. Wenn sie dieses zwangsläufige Einmaleins nicht zu memorieren vermag, wird sie mit ihrer vielgepriesenen Kultur eines Tages am Ende sein und braucht sich dann auch über Kapitalismus und Sozialismus keine Gedanken mehr zu machen.
Vielleicht ist es ein bedeutungsvolles Omen, daß die großen Staaten der Erde immer noch Raubtiere in ihrem Wappen führen, die bald nur noch in zoologischen Gärten zu treffen sein werden.
Auch die Saurier waren Raubtiere. Und dumm.
Ich fürchte, ich fürchte: die Menschheit wird an ihrer Dummheit zugrunde gehen.
Veröffentlicht in: Volk und Zeit: Politik, Gesellschaft, Geistesleben der Völker, 3. Jahrgang, Mai 1948 http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1073192
siehe auch hierzu aktuell:
Artensterben wird immer bedrohlicher
Stuttgarter Zeitung, 24.04.2019, von Klaus Zintz
Eine Studie der Vereinten Nationen lässt aufhorchen: Bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten seien vom Aussterben bedroht, heißt es da. Noch ist der Report nicht veröffentlicht, der Entwurf aber ist schon durchgesickert: Demnach prophezeien die Autoren, dass viele der 500 000 bis eine Million hoch bedrohter Arten „in den kommenden Jahrzehnten“ zu verschwinden drohen. Dass die Schuld dafür eindeutig beim Menschen und der von ihm verursachten fortschreitenden Umweltzerstörung liegt, verschweigt der Report auch nicht: Genannt werden Landwirtschaft, Abholzung, Bergbau, Fischerei und Jagd, gefolgt von Klimawandel und Umweltverschmutzung. Ob der alarmierende Bericht allerdings in aller Schärfe auch von den Staaten letztlich abgesegnet wird, muss sich in der kommenden Woche zeigen. Vorgestellt werden soll die Studie der Zwischenstaatlichen Plattform für Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen (IPBES) auf einer Konferenz, die ab kommendem Montag in Paris stattfindet. 130 IPBES-Mitgliedstaaten sind dort vertreten.Die Botschaft ist brisant, denn bis zu einer Million aussterbende Arten sind eine gewaltige Menge. Kritiker mögen indes einwenden, dass man ja gar nicht weiß, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf der Erde überhaupt gibt. Eine Hochrechnung von 2011 ging von 8,7 Millionen Arten aus. Allerdings glauben Experten, die an diesem Thema arbeiten, dass bis zu 80 Prozent aller Spezies noch gar nicht entdeckt wurden. So reichen die Schätzung von zwei bis 100 Millionen Arten. Nimmt man das Heer der Mikroorganismen dazu, könnten es mehr als eine Billion Arten sein. Sicher ist nicht einmal, wie viele Arten bereits wissenschaftlich beschrieben wurden: Schätzungen zufolge könnten es mehr als zwei Millionen sein.Auch wenn – wie so oft bei solchen Konferenzen – noch Veränderungen und Abschwächungen am Text vorgenommen werden sollten, das Fazit ist eindeutig: Die Welt steuert auf ein Massenaussterben zu – in einer ähnlichen Dimension, wie es nach dem Einschlag eines riesigen Meteoriten vor rund 65 Millionen Jahren der Fall war, als auch die Saurier starben. Nur dass heute nicht die Natur, sondern der Mensch dafür verantwortlich ist.