Grandseigneur mit spitzer Feder

Martin Hohnecker (1939-2012)

Von Achim Wörner, 11. Mai 2012

Stuttgart – Wo bin ich? „Mainstation, Ausstieg in Fahrtrichtung, links, hat der Lautsprecher in mein Hörgerät gequäkt. Ich bin aus dem Superzug gehüpft, hinein nach Stuttgart-Underground. ,Da liegst du nun im Sonnenglanz, schön, wie ich dich je sah…‘ Oh Karl Gerok!“ So beginnt eine preisgekrönte Geschichte, die vor fünf Jahren in der Stuttgarter Zeitung erschienen ist. Martin Hohnecker, der Autor, unternimmt dabei eine persönliche Expedition ins Jahr 2022 durch futuristische Tunnellabyrinthe und urbane Betongebirge. Als 83-jähriger Mann, so die Fiktion, geht er am Stock durch das Einundzwanziger-Paradies des neuen Hauptbahnhofs und versucht, sich selbstgesprächig zurechtzufinden, irgendwie: „O Karl Gerok! Nix Sonnenglanz, riesige leuchtende Spiegeleier illuminieren rollende Züge, rennende Reisende, riechende Frittenbuden. Oha, das sind die Frosch-Glupschaugen, die ,Visitenkarten‘ der Stadt, von unten – und ich mittendrin in der Nullenergiestation, wo das Leben wie auf Schienen läuft. Nur ich will raus, wie Orpheus aus der Unterwelt.“

Erleben wird Martin Hohnecker dies nun nicht mehr. Am vergangenen Sonntag ist der langjährige Lokalchef und stellvertretende Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung wenige Wochen nach seinem 73. Geburtstag an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Die Trauerfeier fand am Mittwoch auf seinen letzten Wunsch hin im engsten Familienkreis an seinem Wohnort in Freiberg-Heutingsheim im Kreis Ludwigsburg statt.

Martin Hohnecker hat die StZ, der er auch nach seiner Pensionierung 2004 als Autor treu blieb, in mehr als vier Jahrzehnten geprägt wie kein anderer Redakteur. Er war ein Sprachvirtuose, ein exzellenter, unter den Leserinnen und Lesern besonders beliebter Schreiber, er war ein innovativer, kreativer Geist. Er verschaffte dem lange umstrittenen Farbfoto Platz im seriösen Blatt und gab der lokalen Kultur ein eigenes Podium. Und er war an vielen wichtigen strategischen Weichenstellungen des Verlages wie dem Ausbau der Berichterstattung in den Landkreisen rund um Stuttgart maßgeblich beteiligt – all dies immer mit dem Ziel, die Rolle der StZ als führende Landeszeitung zu stärken und sie zugleich in der Landeshauptstadt und der gesamten Region fest zu verankern.

Eigentlich hatte Martin Hohnecker bei seinem Eintritt am 1. April 1969 in die Baden-Württemberg-Redaktion nur zwei Jahre bleiben wollen, das war jedenfalls seine Absicht gewesen. „Dass der prinzipienfeste Schwabe seinen Vorsatz vergaß und fast sein ganzes Journalistenleben bei der Stuttgarter Zeitung verbrachte, war ein Glücksfall für die Zeitung“, schrieb der frühere Chefredakteur Peter Christ als „hoh“ aus der Redaktion ausschied – „und wohl auch für ihn.“

Hohnecker, Sohn eines Architekten, kam am 9. April 1939 im pietistischen Korntal zur Welt. Das hat seine Einstellung lebenslang geprägt. Ein tiefes Pflichtbewusstsein zeichnete ihn aus. Zugleich hatte er die wunderbare Gabe der Selbstironie und eines handfesten, bisweilen frivolen, aber nie verletzenden Humors. Im Anschluss an das Abitur gab er nach eigenem Bekenntnis ein „kunterbuntes Zwischenspiel als Hilfsarbeiter, Babysitter, Fotograf und Musiker“. Dann ließ er sich in der Buchhandlung am Bubenbad im Stuttgarter Osten zum Verlagsbuchhändler ausbilden. Doch bald zog es ihn zum Journalismus. „Nach zweijähriger Berufsausübung Nase voll“, notierte er in einem Lebenslauf an die Adresse von Josef Eberle, der die StZ als Herausgeber fast drei Jahrzehnte gelenkt und verkörpert hat: „In der Mittagspause telefonische Rundfrage bei den Zeitungen Nordwürttembergs: Wer sucht Volontär?“ Den Zuschlag erhielt zunächst die „Ludwigsburger Kreiszeitung“, weil die sich nicht lange zierte, doch schon 1969 erfolgte der Wechsel zur StZ. „Ich hoffe, die Erwartungen erfüllen zu können“, schrieb Hohnecker an Eberle, „bemühen werde ich mich jedenfalls darum.“

Eberle und dessen langjährigem Mit­herausgeber Erich Schairer hat Hohnecker sich im Geiste eng verbunden gefühlt. Dabei ging es ihm immer um die Tradition und die Werte eines Blattes, das – im Sinne seiner Gründerväter – für das freie Wort, den unabhängigen Standpunkt, für Toleranz, Gerechtigkeit und praktische Hilfsbereitschaft eingetreten ist, wie er einst formulierte. Zupass kam Hohnecker von Anfang an seine umfassende Bildung, seine Klugheit als Voraussetzung für ein sicheres Urteil. Er war ein Bildungsbürger alter Schule. Nicht nur geist-, sondern bis in Details hinein kenntnisreich war er: sei es in Sachen Stadt- und Landesgeschichte, sei es in der Politik, beim Wetter, in der Literatur, in biblischen Dingen, der Musik oder rund um den Wein und gutes Essen. Seine Liebe gehörte dem Jazz.

„Was unterscheidet den Weingenießer vom schlichten Weintrinker?“, hat er einmal gefragt und auch gleich geantwortet: „Dass er das Riechen, Schmecken, Schlucken mit dem Wissen verbinden will: Wo kommt der Rebensaft her, wie lagert man ihn, welches sind die feinsten Jahrgänge?“ Hohnecker wollte es immer genau wissen. Diese Ernsthaftigkeit, sein eigenes Interesse am Gegenstand, vermochte er den Leserinnen und Lesern zu vermitteln wie wenige andere in der Redaktion. Denn das breite Wissen paarte sich bei ihm auf außergewöhnliche Weise mit einem herausragenden Ausdrucksvermögen und der Gabe, nie in einen akademischen Ton zu verfallen. Jenseits üblicher, der Hektik des Tageszeitungsgetriebes geschuldeter journalistischer Prosa findet sich im StZ-Archiv aus Hohneckers Feder eine Fülle an Beiträgen von literarischer Qualität.

Speziell in seinen Glossen, die immer samstags erschienen, hat er einen eigenen Stil, eine eigene Sprache gefunden, die die Stücke unverwechselbar machen. Legendär beispielsweise ist eine Kolumne über die damaligen Führungsquerelen am Naturkundemuseum, in der er beim „Aufruhr im Stuttgarter Jurassic Park“ die ausgestellten Dinos zu Wort kommen ließ: „Ich glaub‘, ich steh‘ im Wald“, prustet der senile Waldelefant, der seinen linken Stoßzahn immer noch im Cannstatter Travertin vermisst. „Geht auf die Knochen, der dauernde Personalwechsel.“ – „Jawohl“, stöhnt der von Flatulenz geplagte Moschusochse, „irgendwie stinkt’s hier gewaltig.“

Martin Hohnecker war mit vielerlei Talenten gesegnet. Und im Nachhinein erscheint es als nur folgerichtig, dass er in der redaktionsinternen Hierarchie bemerkenswert schnell nach oben kletterte. Dies zumal er, stets korrekt gekleidet mit Jackett und Krawatte, auch im Auftreten „bella figura“ machte. Er avancierte früh zum Chef der Kreisredaktion – und unterstrich von Beginn an sein Amtsverständnis, nämlich sich bedingungslos für „seine“ Redaktion einzusetzen, ohne dass er damit je hausieren gegangen wäre. In einem geharnischten Brief an die Verlagsleitung monierte er 1970, dass die Außenredaktionen über keinen Anrufbeantworter und jeweils nur zwei Telefonanschlüsse verfügten. Zugleich überwies er 80 Mark aus einer Sonderzahlung an die Zeitung zurück, „um Ihnen zu zeigen, wie wichtig mir bessere Arbeitsbedingungen für meine Kollegen sind und wie wenig Lust ich habe, nur zu fordern“. Typisch Hohnecker.

1974 zog es ihn für fünf Jahre in die StZ-Dependance nach Ludwigsburg, einer überbordenden Organisationsarbeit entfliehend. „Sprachgewandt mischte er die kommunale Szene auf, zur Freude der Leser und oft zum Schrecken des Establishments“, wie Ex-Chefredakteur Christ befand. Hie und da muss das Schreiben auch für ihn selbst so etwas wie gemütshygienischen Charakter gehabt haben. Denn später – als Chef vom Dienst und von Mitte der Achtziger an als Lokalchef – hatte Hohnecker die tägliche Strecke von seinem Zuhause in Freiberg am Neckar in die Redaktion nach Möhringen zu absolvieren. Nicht selten geriet die Fahrt zur Stautortur, was sich prompt im Blatt niederschlug. Die verfassten Stillstands-Chroniken sind ungezählt, weil der Autor – wie genervt auch immer – das Ziel doch stets erreichte, so auch am 25. September 2002: „12.25 Uhr. Auf dem Parkdeck Nord des Pressehauses angelangt. 35 Kilometer in vier Stunden. Juhu, Streckenrekord. 13 Uhr. In der Kantine erzählt Staukamerad und Kollege G., er habe die Autobahn über eine Polizeiausfahrt verlassen und so eine Stunde gewonnen. Finaler Nervenzusammenbruch.“

Martin Hohnecker hat sich in vielen Bereichen, so pathetisch das klingt, bleibende Verdienste erworben. Wo anfangen, wo aufhören? Als Autor war und bleibt er Vorbild für viele Journalisten, nicht nur bei der StZ. Schließlich brachte er sich in Seminaren an der Uni Hohenheim und beim Verlegerverband aktiv in die Ausbildung des Nachwuchses ein. Wenn es sein musste, legte er sich mit den Mächtigen in Stadt und Region an – dies gern auf subtile Weise, etwa als er sich über den von einigen Dienstbesprechungen und vielen Pausen geprägten Tagesablauf des damaligen Polizeipräsidenten lustig machte, den ein Lokalreporter in den Kreisen ernsthaft zu Papier gebracht hatte. Schon die Überschrift war von sarkastischer Lakonie: „Vom Stress eines Präsidenten“. Das saß.

Hohnecker, der Weltmännisches ausstrahlte, zog das Florett dem Säbel vor – und verschaffte sich so Respekt. Auch in der Redaktion konnte er bei Bedarf den strengen Lehrmeister mit einem patriarchalen Habitus geben. Handwerkliche Fehler waren ihm ein Gräuel. Und wenn die Ausführungen einzelner Kollegen in den Konferenzen zu lang zu geraten drohten, begann er schon einmal nervös mit dem Kugelschreiber zu schnippen.

Dies stand keineswegs im Widerspruch zu der fördernden und fürsorglichen Art, die er vielen Kollegen zuteil werden ließ, und zu seiner ausgeprägten sozialen Ader. Die StZ-Weihnachtsaktion „Hilfe für den Nachbarn“ war ihm eine Herzensangelegenheit, der er sich mit großem ehrenamtlichem Engagement widmete. So trug er in vorderster Linie dazu bei, dass Bedürftige in Stadt und Region während seiner Amtszeit über die Jahre hinweg mit insgesamt 18 Millionen Euro unterstützt werden konnten. Auch für Menschen mit ganz anderen Auffassungen als den seinen konnte Hohnecker sich erwärmen, so pflegte er eine intensive, keineswegs unkritische Beziehung zum Remstalrebellen Helmut Palmer. „Man soll die Hand, die einen streichelt, nicht beißen“, ließ er diesen einmal wissen. Und jungen Vätern in der Redaktion riet er, den Arbeitseinsatz nicht allzu sehr zu übertreiben, sondern sich auch Zeit für die Familie zu nehmen – eine Aufforderung, der er selbst am wenigsten und nach eigenem Empfinden zu selten gefolgt ist.

In seiner Vision von Stuttgart 21 flüchtet der Autor Hohnecker am Ende aus der Stadt. „Erleichterung bei der Auferstehung im Bahnhof Feuerbach“, schreibt er in seiner Geschichte: „Hurra, wenigstens hier ist alles noch wie früher.“ Seit Sonntag ist nichts mehr wie früher: Martin Hohnecker, der Frau und Sohn samt Familie mit den geliebten Enkelkindern Paul und Emma hinterlässt, ist in eine andere Welt gegangen. Er wird fehlen. Seine Spuren bleiben.

Quelle: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.martin-hohnecker-ist-tot-grandseigneur-mit-spitzer-feder.2ba48f84-475c-4df3-88af-fec4ddf0d6b8.html