Anschauungsunterricht

— Jg. 1931, Nr. 2 —

Ein Gutes hat die große Wirtschaftskrise, in der wir uns befinden: sie erteilt auf breitester Basis Anschauungsunterricht über das kapitalistische System, unter dessen Herrschaft die Menschen neben vollen Scheuern verhungern können.

Die Menschen wollen fühlen, nicht hören. Ein Beispiel, und vollends eines am eigenen Leib, ist besser als zehn Predigten. Auch das Beispiel genügt im allgemeinen nicht, wenn es vereinzelt bleibt. Es muß repetiert und wieder repetiert werden. Am Ende des letzten Krieges war alles voll Abscheu und Ablehnung gegenüber dem Wahnsinn des Völkermords nach dem Prinzip der umgekehrten Auslese. Nie wieder Krieg! Heute ist jener Eindruck schon wieder halb vergessen. Man treibt in Europa auf einen neuen Krieg zu, der schlimmer sein wird als der vorige. Vielleicht wird das dann der letzte sein, oder der vorletzte.

Auch von der gegenwärtigen Krise, der „größten Weltwirtschaftskrise seit einem halben Jahrhundert“ (Julius Hirsch), glauben manche, sie werde den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus heraufführen. Wir wollen nicht so optimistisch sein; aber soviel ist sicher, daß sie mithilft, ihn vorzubereiten. Not lehrt denken, fragen, zweifeln.

„Sollte es denn im zwanzigsten Jahrhundert dem menschlichen Geiste, der fast jedes technische Problem spielend löst, der immer neue Methoden zur Steigerung des Güterreichtums ersinnt, nicht möglich sein, auch eine Organisation der Wirtschaft zu schaffen, die eine störungslose Entwicklung ermöglicht und alle Menschen auch wirklich in den Genuß dieses Güterreichtums bringt?“ So fragt Max Weber im schweizerischen „Aufbau“ und wird sicher auch mancher fragen, der sich sonst nicht mit wirtschaftstheoretischen Problemen zu befassen pflegt. Ein Pfarrer aus der Stuttgarter Umgebung, kein Sozialist, schreibt in der zum Jahresschluß von ihm herausgegebenen Chronik seiner Gemeinde: „…Im übrigen muß eine Ordnung gefunden und aufgerichtet werden, nach der nicht die einen prassen und die andern darben, nach der das Wohl des ganzen Volkes und jedes Einzelnen und nicht der Profit und die Bereicherung verhältnismäßig Weniger das Maßgebende und Entscheidende ist.“ Also genau das, was wir hier seit elf Jahren immer wiederholen. Und Hugo Borst, der frühere kaufmännische Direktor der Robert Bosch AG., ebenfalls kein Sozialist, hat vor acht Tagen im „Stuttgarter Tagblatt“ gesagt: „Es handelt sich … gegenwärtig um die vielleicht letzte Probe auf die Tragfähigkeit unserer heutigen individualistischen kapitalistischen Wirtschaftsordnung … Auch Wirtschaftsformen ändern sich und entwickeln sich weiter.“ Er fährt allerdings fort: „Ich glaube nicht, daß wir heute schon am Ende der unserigen stehen“, und zwar, „weil wir aus unserer gegenwärtigen Schwäche und Armut heraus gar nicht die Kraft aufbringen, eine völlig neue, bessere Ordnung zu schaffen.“

Diese Begründung mag stimmen oder nicht; jedenfalls beweisen die angeführten Sätze, daß sogar im kapitalistischen Lager selber, um einen militärischen Ausdruck zu gebrauchen: die Moral der Truppe zu wanken beginnt. Und das ist keineswegs unwichtig. Wenn die Vertreter eines Systems selber nicht mehr daran glauben, dann trägt das ebensoviel oder mehr zu seinem Ende bei als die Angriffe der Gegner von außen. Man erinnere sich an das politische Ende des wilhelminischen Reiches, das 1918 nur deshalb so leicht zu stürzen war, weil es seine berufenen Verteidiger von innen her bereits aufgegeben hatten.

Der Anschauungsunterricht durch Beispiel ist wirksamer als alle Theorie. Und doppelt wirkungsvoll ist das Beispiel, wenn es durch ein Gegenbeispiel unterstützt wird. Wenn es wahr ist, daß der russische Fünfjahresplan in diesem Jahr dahin geändert werden soll, daß die Erzeugung und Verteilung von Konsumwaren, die seither zugunsten der Schwerindustrie zurückgestellt gewesen ist, jetzt mehr in den Vordergrund treten wird, so könnte darin ein kluger Schachzug der Bolschewisten gerade im Hinblick auf das heutige Elend in den kapitalistischen Ländern liegen.

1931, 2 · Erich Schairer