Aus dem Leben eines Fabeltiers

Wilhelm II. im Jahr 1917

4. September 1987 – AUS DER ZEIT NR. 37/1987

Mir ist, als ob uns eine Herde Irrsinniger regiere.
Max Weber

Kurz nach Ausbruch des großen Krieges im Sommer 1914 schrieb ein preußischer Offizier in Brasilien an einen Freund in Heidelberg, es stehe endlich fest, daß Kaiser Wilhelm II. dazu berufen sei, ein „Weltgestalter“ zu sein. Ihm komme mehr Größe als Bismarck und Moltke, ein höheres Schicksal als Napoleon zu. Begeistert rief er aus: „Wer ist dieser Kaiser, dessen Friedensherrschaft so voller Anstoß und mühseligen Lavierens war?… Wer ist dieser Kaiser, der plötzlich diese Zweifel von sich wirft, das Visier emporreißt, ein Titanenhaupt entblößend und der Welt entgegenstemmend? …Ich habe diesen Kaiser verkannt, ich habe ihn für einen Zauderer gehalten. Er ist ein Jupiter, die Blitze in der Hand auf dem Olymp seiner eisenstarrenden Macht. In diesem Augenblick ist er Gott und der Herr der Welt… Ungeheuer wird sich die Gestalt Wilhelms II. aus der Geschichte emporrecken.“ Der Offizier irrte sich. Bis heute gibt es von Kaiser Wilhelm II. keine einzige vollwertige Biographie aus der Feder eines deutschen Geschichtsgelehrten. Schlimmer noch: Die heute in der Bundesrepublik vorherrschende Forschungsrichtung verwirft jede Beschäftigung mit ihm – ja mit Persönlichkeiten in der Geschichte überhaupt – als personalistischen Rückfall in längst überholte Methoden der Geschichtsschreibung. Die „neue Orthodoxie“ schreibt die Geschichte des Kaiserreiches ohne Kaiser, die des Wilhelminismus ohne Wilhelm. 

Und doch: Es gibt gute Gründe, sich mit diesem „Fabeltier unserer Zeit“ (J. Daniel Chamier) auseinanderzusetzen. Erstens bildet seine eigenartige Persönlichkeit ein faszinierendes Rätsel für sich. Sodann regierte Wilhelm II. über den mächtigsten und dynamischsten Staat Europas, und zwar dreißig Jahre lang – das ist länger noch als Bismarck und zweieinhalbmal so lange wie Hitler. Und wenn auch keiner behaupten würde, seine Machtfülle sei der des Eisernen Kanzlers oder des „Führers“ gleichzustellen, so ist es doch absurd, den komplexen Entscheidungsprozeß in diesem „heroisch-aristokratischen Kriegerstaat“ (Karl Alexander von Müller) verstehen zu wollen, ohne die Rolle des Monarchen zu berücksichtigen, der sowohl in der Theorie als auch in der Praxis seinen politischen und gesellschaftlichen Mittelpunkt darstellte, der im militärischen Bereich die absolute Kommandogewalt besaß und das Recht hatte, sämtliche Personalentscheidungen selbst zu treffen. Die Zeitgenossen sahen das jedenfalls anders als die Historiker. „Es gibt im gegenwärtigen Deutschland keine stärkere Macht als das Kaisertum“, schrieb Friedrich Naumann 1900. Zwei Jahre später stellte Maximilian Harden fest: „Der Kaiser ist sein eigener Reichskanzler. Von ihm sind alle wichtigen politischen Entscheidungen der letzten zwölf Jahre ausgegangen.“ Auch für ausländische Beobachter war Kaiser Wilhelm II. einfach „the most important man in Europe“

Ein dritter Grund, sich mit dem Kaiser zu beschäftigen, liegt in dem Umstand, daß Wilhelm II. in einem ganz ungewöhnlichen Maße die politische Kultur seiner Epoche verkörperte. Er war König von Gottes Gnaden und zugleich stets Parvenü; ein Ritter des Mittelalters in schimmernder Wehr und Schöpfer jenes Wunders der modernen Technologie, der großen Schlachtflotte; ein junkerlicher Reaktionär und auch – wenigstens zeitweilig – „der sozialistische Kaiser“. Wie die Gesellschaft, über die er herrschte, war Wilhelm zugleich brillant und bizarr, aggressiv und unsicher. Er war so, wie die meisten Deutschen seiner Zeit ihn haben wollten. Während des 25. Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms im Juni 1913 rief Friedrich Meinecke vor der versammelten Freiburger Universität aus: „Wir verlangen einen Führer…, für den wir durchs Feuer gehen können.“

Ja, auch über seine Regierungszeit hinaus kann Wilhelm geradezu als „Schlüsselfigur“ für das Verständnis der Hybris und Nemesis des deutschen Nationalstaates überhaupt dienen. Sein Leben umspannte beinahe bis auf Jahr und Tag die Geschichte des deutschen Reiches von der Reichsgründung durch Bismarck bis zur Selbstzerstörung unter Hitler. Seine Haßliebe für seine Mutter, die älteste Tochter der Queen Victoria, spiegelt genau den deutsch-englischen Antagonismus wider, der in dem Rüstungswettbewerb der Schlachtflotten seinen klarsten Ausdruck fand und in dem fürchterlichen europäischen Bürgerkrieg von 1914-1918 gipfelte. Niederlage, Revolution und Abdankung brachten in Wilhelm eine fanatische Radikalisierung seines Hasses auf seine – wirklichen und eingebildeten – Feinde hervor, der von dem revolutionären Antisemitismus und dem völkischen Nationalismus Adolf Hitlers kaum noch zu unterscheiden ist. Hätte er ein paar Wochen länger gelebt, so hätte er mit Sicherheit dem „Führer“ zum Angriff auf Rußland ein begeistertes Glückwunschtelegramm gesandt, ähnlich wie diejenigen anläßlich der Siege über Polen 1939 und Frankreich 1940.

Der allerbeste Grund aber, sich mit dem Kaiser auseinanderzusetzen, ist einfach der, daß die Archive Europas voll sind von Briefen von ihm, an ihn und über ihn – Briefe, die in vielen Fällen noch von keinem eingesehen worden sind. Der Historiker hat mehr als ein Recht, diese reichhaltigen Quellen aufzudecken und auszuschöpfen: Er hat die Pflicht. Tut er das nicht, so bleiben die Mythen unwidersprochen, die seit Generationen durch eine Mischung von Wunschdenken und bewußter Propaganda in Umlauf sind. In dieser kurzen Skizze möchte ich ein wenig von meiner Entdeckerfreude mitteilen, als ich in einem Archiv in der DDR das Siegel an einem Paket von Briefen der Queen Victoria an ihren Enkelsohn Willie aufbrach, oder aber auch mein Entsetzen, hoch in einem Burgturm in Württemberg, als ich die furchtbaren antisemitischen Expektorationen des Kaisers aus der Exilzeit auffand.

Wer, also, war dieser Kaiser, der im Jahre 1888 im Alter von 29 Jahren den „mächtigsten Thron der Welt“ erbte? Zehn Jahre nach der Thronbesteigung schrieb Bernhard von Bülow, damals immerhin Staatssekretär des Auswärtigen Amtes: „Ich hänge mein Herz immer mehr an den Kaiser. Er ist so bedeutend!! Er ist mit dem großen König und dem großen Churfürsten weitaus der bedeutendste Hohenzoller, der je gelebt hat. Er verbindet in einer Weise, wie ich es nie gesehen habe, echteste und ursprünglichste Genialität mit klarstem bon sens. Er besitzt eine Phantasie, die mich mit Adlerschwingen über alle Kleinigkeiten emporhebt, und dabei den nüchternsten Blick auf das Mögliche und Erreichbare. Und dabei welche Tatkraft! Welches Gedächtnis! Welche Schnelligkeit und Sicherheit der Auffassung! Heute morgen im Kronrat war ich geradezu überwältigt!“ Nun ist das Vorhandensein dieser von Bülow hervorgehobenen eindrucksvollen Eigenschaften des Kaisers keineswegs zu bestreiten. Das Problem war aber, daß diese guten Eigenschaften mit anderen Hand in Hand gingen, die zwar bis auf wenige Ausnahmen vor der Öffentlichkeit geheimgehalten werden konnten, aber bei den wenigen Eingeweihten schwerste Besorgnis erregten. Selbst Bülows Optimismus konnte den Kontakt mit der Realität nicht lange überstehen.

Was war diese Realität? Beginnen wir mit einer Aufzählung der Eigenschaften, die den größten Eindruck auf Wilhelms engsten Freundeskreis machten.

1. Jede Skizze seines Charakters muß mit der Feststellung beginnen, daß er nie reifer wurde. Am Ende seiner 30jährigen Regierungszeit galt er immer noch als „junger“, als „kindlich-genialer“ Kaiser (Bülow). Er schien unfähig, aus der Erfahrung zu lernen. Philipp Eulenburg, der ihn besser kannte als irgendein anderer, schrieb um die Jahrhundertwende, daß sich der Kaiser während der elf Jahre seiner Regierung zwar „in seinem äußeren Wesen … sehr beruhigt habe“. „Geistig aber hat sich nicht die geringste Wandlung vollzogen. Er ist unverändert in seiner explosiven Art. Sogar härter und plötzlicher in einem Selbstgefühl gereifter Erfahrung, die keine Erfahrung ist. Seine Individualität ist stärker als die Wirkung von Erfahrung.“ 

Mehr als dreißig Jahre später, als Eulenburg und Bülow beide tot waren und der Kaiser 72 Jahre alt, schrieb sein Adjutant von Ilsemann in seinem Tagebuch in Doorn: „Ich habe jetzt den zweiten Band der Bülow-Memoiren fast ganz durchgelesen, und immer wieder muß ich konstatieren, wie wenig der Kaiser sich seit jener Zeit verändert hat. Fast alles, was sich damals zugetragen hat, wiederholt sich heute, nur mit dem Unterschied, daß seine Handlungen damals von schwerwiegender Bedeutung waren und Folgen hatten, während sie heute kein Unheil anrichten. Auch die vielen guten Eigenschaften dieses seltsamen, eigenartigen Menschen, dieser so komplizierten Natur des Kaisers, hebt Bülow immer wieder hervor.“

Warum? Die amerikanische Historikerin Isabel Hull hat in ihrer glänzenden Untersuchung über die kaiserliche Umgebung die These aufgestellt, daß die Rastlosigkeit des Kaisers, sein ständiges Reisen, der Zwang, immer selbst zu reden, welcher jedes „Zwiegespräch“ zu einem hektischen Monolog gestaltete, sein Bedürfnis, immer Leute um sich zu haben, auch während er las – daß diese Rastlosigkeit eine „Conspiracy against selfunderstanding“, eine Abwehrtaktik gegen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit darstellte. Das leuchtet sehr ein. Sicher ist, daß eine derartige unruhige Lebensweise den Prozeß der Reifung zur persönlichen Autonomie und Ich-Integrität sehr erschweren mußte.

2. Die berüchtigte Selbstherrlichkeit Wilhelms, die grobe Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, die von seinen Zeitgenossen als „Cäsarenwahnsinn“ (Ludwig Quidde) oder folie d’empereur kritisiert wurde, verhinderte ebenfalls die Aufnahme von konstruktiver Kritik. Wie sollte der Kaiser auch lernen, wenn er seine Minister verachtete, selten empfing und kaum anhörte; wenn er der Überzeugung war, seine Diplomaten hätten so „die Hosen voll“, daß die ganze Wilhelmstraße zum Himmel stinke; wenn er selbst den Kriegsminister und den Chef des Militärkabinetts ab „Ihr alten Esel“ anredete und zu einer Versammlung von Admiralen sagte: „Ihr wißt alle gar nichts. Nur ich weiß etwas, nur ich entscheide.“ Noch vor der Thronbesteigung warnte er: „Wehe, wenn ich zu befehlen haben werde!“ Noch vor der Entlassung Bismarcks drohte er, jeden Gegner zu „zerschmettern“. Er allein sei Herr im Reich, er dulde keinen anderen, hieß es im Mai 1891. Dem Prinzen von Wales sagte er: „I am the sole matter of German policy and my country must follow me wherever I go.“ Zehn Jahre später, in einem Privatbrief an eine Engländerin, erklärte er: „As for having to sink my ideas and feelings at the bidding of the people, that is a.thing unheard of in Prussian history or traditions of my house! What the German Emperor, King of Prussia thinks right and best for bis people he does.“

Im September 1912 entsandte er gegen den Rat des Reichskanzlers den Fürsten Lichnowsky nach London mit den Worten: „Ich schicke nur einen Botschafter nach London, der Mein Vertrauen hat, Meinem Willen pariert, Meine Befehle ausführt.“ Und noch im Weltkrieg behauptete er: „Was das Publikum darüber sagt, ist mir ganz gleichgültig. Ich entscheide nach meiner Überzeugung, erwarte allerdings dann, daß meine Beamten darauf das Ihrige tun, irrigen Auffassungen des Volkes in geeigneter Form entgegenzutreten.“ Kein Wunder, nach einem solchen Katalog der Selbstglorifizierung, daß man sich in Wien den Witz erzählte, Kaiser Wilhelm wolle auf jeder Jagd der Hirsch, auf jeder Hochzeit die Braut, auf jeder Beerdigung die Leiche sein!

3. Der Kaiser hatte eine ganz ungewöhnliche Gabe, die Welt zu sehen, nicht wie sie war, sondern wie er sie sehen wollte. Im Sommer 1903 schrieb Eulenburg von der Nordlandreise an Reichskanzler von Bülow: „Wochenlang… mit dem lieben Herrn in Kontakt zu sein, öffnet ja auch dem weniger Eingeweihten die Augen – und auch dieser erschreckt über die immer mehr in Erscheinung tretende Tatsache, daß S. M. alle Dinge und alle Menschen lediglich von seinem persönlichen Standpunkt betrachtet und beurteilt. Die Objektivität ist völlig verloren, die Subjektivität reitet auf einem beißenden und stampfenden Rosse.“ 1927 mußte sich auch die Kronprinzessin fragen, wie es möglich sei, daß ein doch so kluger Mensch „so jede Dimension verliert und die phantastischsten Dinge erzählt und sie selbst glaubt? In einem gewissen Augenblick ist eben völlig Schluß beim Kaiser, da hört sein Blick für jede Wirklichkeit auf und dann glaubt er an die unmöglichsten Zusammenhänge. Er ist und bleibt ein Rätsel.“

Das drastischste Beispiel für die Fähigkeit des Kaisers, die Welt nach seinen Bedürfnissen zurechtzurücken, bietet wohl seine Erkenntnis aus dem Jahre 1923, daß er sich mit seinen Mahnungen gegen die „Gelbe Gefahr“ geirrt hatte. „Endlich weiß ich (sagte er), welche Zukunft wir Deutschen haben, wozu wir noch berufen sind!… Wir werden die Führer des Orients gegen den Okzident. Mein Bild ‚Völker Europas‘ muß ich jetzt ändern. Wir gehören ja auf die andere Seite! Wenn wir den Deutschen erst einmal beigebracht haben, daß Franzosen und Engländer gar keine Weißen, sondern Schwarze. … sind, dann werden sie schon gegen die Bande vorgehen!“ Wer Engländer und Franzosen für Neger halten konnte, hatte natürlich auch kaum Schwierigkeiten, Jesus von Nazareth als „Nichtsemiten“ und ab „niemals … ein Jude“ zu bezeichnen.

4. Der Kaiser wütete gegen jeden, der nicht seinen Willen tat, und war voller Rachsucht gegen alle, die ihn „verraten“ hatten. 1900 notierte Eulenburg, daß Wilhelm die Ermordung des deutschen Gesandten in China „als eine persönliche Beleidigung“ auffaßte, für die er „durch die Truppen Rache“ nehmen wollte. Dementsprechend telegraphierte er an Bülow: „Der Deutsche Gesandte wird durch meine Truppen gerächt. Peking muß rasiert werden.“ Wenige Wochen später befiehlt er dann in seiner wohl fürchterlichsten Rede den Truppen, die nach China eingeschifft wurden, sich wie die Hunnen zu benehmen:„Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freudigen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel. Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird (euch) nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß [211] auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen.“

(zitiert nach wikisource, siehe hier: https://de.m.wikisource.org/wiki/Hunnenrede)

Das war keine einmalige Entgleisung. Während des Ersten Weltkriegs befahl er den Offizieren einer Division, keine Gefangenen zu machen. Und im September 1914, nach der Schlacht von Tannenberg, schlug er vor, daß die 90 000 russischen Kriegsgefangenen so lange auf die Kurische Nehrung getrieben werden sollten, bis sie vor Hunger und Durst umkämen.

In der Innenpolitik war das nicht anders. 1899 meinte der Kaiser: „Ehe nicht die sozialdemokratischen Führer durch Soldaten aus dem Reichstag herausgeholt und füsiliert sind, ist keine Besserung zu erhoffen.“ Während eines Streiks der Berliner Trambahner 1900 drahtete Wilhelm dem Kommandeur von Berlin: „Ich erwarte, daß beim Einschreiten der Truppe mindestens 500 Leute zur Strecke gebracht werden.“ 1903 schilderte der Kaiser, wie er mit der kommenden Revolution fertig zu werden gedenke. Er würde alle Sozialdemokraten zusammenschießen, sagte er, aber erst, nachdem sie „ordentlich Juden und Reiche geplündert“ hätten, denn er habe „Rache zu nehmen für ’48 – Rache!!!“

Seine Rachsucht wurde selbstverständlich noch dominanter, nachdem die Revolution von 1918 ihn vom Throne getrieben hatte. In den frühen 1920er Jahren entwickelte Wilhelm II. eine vollständige Weltverschwörungstheorie, laut welcher die Freimaurer, Jesuiten und Juden die Welt erobern wollten, um alle „deutschen“ (d. h. monarchischen) Werte zu vernichten. Seine Freunde in Deutschland und Amerika erhielten regelmäßig 20- bis 30seitige Briefe, die diese Weltverschwörungsidee in solch drastischer Weise verbreiteten, daß ich, während ich sie las, immer mehr befürchten mußte, eines Tages das Unsagbare zu entdecken. Und vor einiger Zeit fand ich tatsächlich folgenden Passus in einem Schreiben Kaiser Wilhelms: „Die tiefste, gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhaßten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoß! Das war sein Dank! Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht bis nicht diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichbaum!“ Diese Worte sind eigenhändig geschrieben und datieren vom 2. Dezember 1919.

Kaiser Wilhelm wütete aber nicht nur gegen die ehemaligen „Reichsfeinde“, sondern gegen jeden, der sich seinem Willen widersetzte. Nach Hindenburgs Tod im Sommer 1934 rief er aus, in Erwartung einer baldigen Restauration: „Blut muß fließen, viel Blut, bei den Offizieren und den Beamten, vor allem beim Adel, bei allen, die mich verlassen haben.“ Es war, wie Eulenburg einmal schrieb, „als ob gewisse Empfindungen, die wir an anderen voraussetzen, plötzlich verschwunden sind“.

Ja, selbst Wilhelms Familie und Verwandtschaft wurden nicht verschont. Dem „verdammten Pollacken“ Prinz Alexander von Battenberg wollte er „eine Kugel vor den Kopf schießen“. „Wenn alles reißt“, sagte er 1887, „schlage ich den Battenberger tot!“ Während des Besuchs der Queen Victoria in jenem Jahr erklärte Wilhelm, es sei höchste Zeit, daß die alte Frau – seine Großmutter – sterbe. Er bezeichnete sie jetzt als „Kaiserin von Hindostan“, seine Mutter und Schwestern ab „Englische Kolonie“, die Ärzte, die den Kehlkopfkrebs seines Vaters behandelten, ab „Judenlümmel“, „Halunken“ und „Satansknochen“. Alle, so behauptete er, seien durchsetzt von „Rassenhaß“ und „Antideutschtum bis zum Rande des Grabes“. Während der tragischen 99-Tage-Regierung seines Vaters schrieb Wilhelm an Eulenburg: „Was ich hier in den letzten 8 Tagen durchgelebt, ist eben einfach nicht zu schildern und spottet auch nur des Gedankens! Das Gefühl der tiefen Scham für das gesunkene Ansehen meines einst so hoch und unantastbar dastehenden Hauses ist aber das stärkste! Ich sehe das als Prüfung für mich und uns alle an, und versuche, es mit Geduld zu tragen! Daß unser Familienschild befleckt und das Reich an den Rand des Verderbens gebracht ist durch eine englische Prinzessin, die meine Mutter ist, das ist das Allerfurchtbarste!“ Ein Jahr vor der Thronbesteigung sagte Wilhelm, man könne nicht Haß genug gegen England haben, und warnte: „England kann sich vorsehen, wenn ich einmal etwas zu sagen habe.“

5. Wilhelms „Humor“ hatte nicht selten einen verletzenden, ja bisweilen sadistischen Charakter. Obwohl sein rechter Arm so stark war, wie der linke nutzlos von der Schulter hing, amüsierte es ihn, seine Ringe nach innen zu drehen – um dann die Hand von Besuchern so fest zu drücken, bis ihnen die Tränen kamen. König Ferdinand von Bulgarien reiste „weißglühend vor Haß“ von Berlin ab, nachdem der Kaiser ihm öffentlich einen wuchtigen Schlag auf den Hintern gegeben hatte. Dem Großfürsten Wladimir von Rußland schlug er mit dem Marschallstab auf den Rücken. Den Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, auch ein Enkel der Queen, kniff und puffte der Kaiser derart in der Bibliothek, „daß der arme kleine Herzog eigentlich“, wie ein Hofmarschall seinem Tagebuch anvertraute, „in regelrechter Weise verprügelt wird“. Auch nach der Thronbesteigung des Herzogs kam es vor, daß der Kaiser ihm befahl, sich auf den Rücken zu legen, während Majestät sich dann auf den Bauch des Herzogs setzte.

Die nähere Umgebung des Kaisers blieb von solchen „Scherzen“ nicht verschont. Ein Diplomat schrieb in sein Tagebuch während einer Schiffsreise: „Morgens machen wir mitsamt dem Kaiser gesundheitshalber ‚Freiübungen‘… Ein ulkiger Anblick: Wenn all die alten Kracher von Militärs gemeinsam die Kniebeuge machen müssen mit verzerrten Gesichtern! Der Kaiser lacht manchmal laut auf und hilft mit Rippenstößen nach. Die alten Knaben tun dann so, ab ob diese Auszeichnung ihnen eine besondere Freude machen würde, ballen aber die Faust in der Tasche und schimpfen nachher unter sich über den Kaiser wie alte Weiber.“

Wiederholt beklagt sich auch Philipp Eulenburg über dieses „geradezu ekelhafte“ Schauspiel: „Alle alten Exzellenzen und Würdenträger (müssen) unter Geschrei und Witzen zum Turnen antreten.“ Ab Eulenburg sich nach einem besonders enervierenden Tag auf der Hohenzollern nachts schlafen legte, hörte er um Mitternacht „plötzlich die laut lachende, schreiend schallende Stimme des Kaisers vor meiner Tür: Er jagte die alten Exzellenzen Heintze, Kessel, Scholl, etc. durch die Gänge des Schiffes zu Bett“. Auch daran änderte sich im Laufe der Jahre nichts. Noch während der zweiten Marokkokrise notierte der Chef des Marinekabinetts in seinem Tagebuch: „Beim Turnen morgens große Albernheit. S. M. schneidet Scholl mit einem Taschenmesser die Hosenträger durch.“

6. Schließlich hatte der Kaiser eine Vorliebe für Uniformen, historische Kostüme, Schmuck und Juwelen, vor allem aber für kindliche Spiele in männlicher Gesellschaft. Einer seiner engsten Freunde, Graf Görtz, machte „heulende und tanzende Derwische und allerlei Schnickschnack“ für den Kaiser. Er konnte auch Tierstimmen vorzüglich nachahmen. Für die Liebenberger Jagd im Herbst 1892 schlug Georg von Hülsen Görtz vor: „Sie müssen von mir ab dressierter Pudel vorgeführt werden! – Das ist ein ,Schlager‘ wie kein anderer. Bedenken Sie: hinten geschoren (Tricot), vorn langer Behang aus schwarzer oder weißer Wolle, hinten unter dem echten Pudelschwanz eine markierte Darmöffnung und, sobald sie ‚schön machen‘ vorne ein Feigenblatt. Denken Sie wie herrlich, wenn Sie bellen, zur Musik heulen, eine Pistole abschießen oder andere Mätzchen machen. Das ist einfach großartig!!… Ich sehe bereits S. M. lachen wie wir … Ich komme mir dabei vor wie der Clown aus dem Knaus’schen Bild „Hinter den Kulissen‘. Gleichviel! – S. M. soll zufrieden sein!!“ Der Bruder Georg Hülsens, Dietrich, General und Chef des Militärkabinetts, starb 1908 an einem Herzanfall, während er in Donaueschingen – in einen großen Federhut und ein Ballettröckchen gekleidet – dem Kaiser vortanzte.

Unsere Aufzählung der Charaktereigenschaften Kaiser Wilhelms II. hat bisher ein höchst unerquickliches Porträt ergeben – eines, das weit entfernt ist von dem Bilde, welches die meisten Biographien zeichnen. War das aber vielleicht nur eine Fassade? Gab es, hinter diesem harten, grausamen Äußeren, einen weicheren, liebenswürdigeren Wilhelm, wie Rathenau beispielsweise vermutete? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir sein Privatleben etwas näher beleuchten.

Den gesamten Artikel von John G. G. Röhl in der ZEIT vom 4. September 1987 finden Sie hier: https://www.zeit.de/1987/37/aus-dem-leben-eines-fabeltiers/komplettansicht