Das Ende des Schweigens

Zeitgeschichte | Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ sorgte vor 60 Jahren für Furore – zu einer Zeit, als noch kaum jemand im Nachkriegsdeutschland an Aufarbeitung dachte. | Von Stefan Jehle

Den Karlsruher Ludwigsplatz trennen nur 200 Meter vom Bundesgerichtshof und 400 Meter vom Bundesverfassungsgericht. Am Rand liegt ein Gebäude, das zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Münchener Jugendstilarchitektur erbaut wurde – und in dem lange Zeit ausschließlich Münchner Bier im Ausschank war. Zum Krokodil hieß die Gaststätte. In der Weimarer Zeit sollen hier mehrfach Persönlichkeiten wie Gustav Stresemann oder Winifred Wagner zu Gast gewesen sein, so berichtet es jedenfalls das Karlsruher Stadtarchiv.

Ende des Jahres 1959 war die Gaststätte, in der heute vorwiegend Tapas und Tacos aus mexikanischer Küche gereicht werden, drei Tage lang ein Ausstellungsort: Dutzende Kladden mit Akten über die NS-Strafjustiz lagen mittags auf den Wirtshaustischen und mussten vor dem am Abend beginnenden Restaurantbetrieb wieder abgeräumt werden. Sie sorgten für heftige Diskussionen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, dachte doch kaum jemand in den Nachkriegsjahren an die Aufarbeitung der ungeheuerlichen Verbrechen des NS-Regimes. Nicht nur der „Schwarzwälder Bote“, sondern auch unsere Zeitung, die „Frankfurter Allgemeine“ und sogar die „Times“ und der „Guardian“ berichteten über die ungewöhnliche Ausstellung.

Ursprünglich sollte die Schau nicht in einer Gaststätte gezeigt werden, sondern in der Stadthalle. Eine Gruppe Berliner Studenten, immatrikuliert an der Freien Universität und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zugehörig, hatte in dem Veranstaltungskomplex einen kleinen Saal gebucht. Karlsruhe war als Sitz der höchsten deutschen Gerichte bewusst für die Premiere der Wanderausstellung gewählt worden. Doch in der Stadthalle war nach einem Abend bereits Schluss. „Auf Druck von Bonner Ministerien“, so erinnert sich Reinhard Strecker, sei die Stadtverwaltung eingeknickt. Die Studenten mussten mit ihren Exponaten ins Krokodil umziehen.

Mehrstündige Pressekonferenz

Strecker, seinerzeit Initiator der Ausstellung und an der FU für das exotisch anmutende Studium der indogermanischen Sprachen eingeschrieben, wird bald 90 Jahre alt – aber seine Erinnerungen sind ungetrübt. „Der Druck der Verleumdung aus Bonn war damals groß genug, dass die Stadt uns den Mietvertrag für nichtig erklärte“, erzählt er. Aber letztlich war Strecker den Ministerialen im Nachhinein sogar dankbar: Das Bonner Bundespresseamt sei ungewollt hilfreich gewesen. Die Behörde hätte, weil sie sich eine Berichterstattung gegen die Ausstellung erhoffte, „alle nationalen und internationalen Journalisten nach Karlsruhe geschickt“.

Doch dieser Plan ging nicht auf. Der erste Ausstellungstag im Krokodil begann mit einer mehrstündigen Pressekonferenz und detaillierten Erläuterungen der Studenten zu der Ausstellung. Erstmals wurden öffentlichkeitswirksam die Taten von NS-Todesrichtern angeprangert – Taten von Juristen, die während der zwölf Jahre Naziherrschaft fragwürdige Urteile verhängt hatten und doch in der damals jungen Bundesrepublik weiter an deutschen Gerichten tätig waren.

Die Ausstellung mit dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“ bestand fast nur aus damals in Behörden gebräuchlichen Schnellheftern. Insgesamt 105, teilweise höchst fragwürdige Todesurteile waren in den Akten gelistet, an denen laut den Recherchen von Strecker und seinen Kommilitonen in den Kriegsjahren 206 Richter und Staatsanwälte beteiligt waren. So kam dieses Thema fast 20 Jahre, bevor der Fall Filbinger ein politisches Erdbeben im deutschen Südwesten auslöste, ans Licht der Öffentlichkeit.

Die für sie als belastet geltenden Juristen benannten die Studenten mit Namen, Wohnort und der 1959 ausgeübten beruflichen Position. Auf diese Weise angeprangert, wurden zum Beispiel ein Landgerichtsdirektor aus Tübingen, ein Landgerichtsrat aus Hechingen sowie ein BGH-Bundesrichter und ein Staatsanwalt der Bundesanwaltschaft aus Karlsruhe.

Zwei Monate später, im Januar 1960, erstatteten Strecker und sein Mitstreiter Wolfgang Koppel im Auftrag des SDS-Bundesvorstandes Strafanzeige gegen 43 wieder amtierende ehemalige NS-Richter „wegen des Verdachts auf Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag“.

Die Pressekonferenz an jenem 28. November 1959 im Gasthaus Krokodil war laut Strecker „von einer emotional erregten Atmosphäre geprägt“. Am nächsten Tag habe es, mit ganz wenigen Ausnahmen, „nur positive Berichte gegeben“, quer durch die bundesdeutsche Presse. Die Ausstellung, die wenig später in Berlin, Tübingen, Hamburg und München sowie 1961 auch in Freiburg und Stuttgart zu sehen war, lag zeitlich vor den Frankfurter Auschwitz-Prozessen. Sie sollte das Ende des Schweigens über die nationalsozialistische Vergangenheit markieren.

Unterstützer und Kritiker

Die überwiegend in Seminarräumen, Hinterzimmern von Gaststätten, kleinen Kunstgalerien und Studentenwohnheimen ausgestellten Unterlagen wurden nicht großartig erläutert, zur Erklärung dienten im Einzelfall lediglich handgeschriebene Transparente. Unmittelbar im Anschluss an Karlsruhe wurde die Schau, die bis 1962 lief, vom 23. Februar bis zum 7. März 1960 in einer Berliner Galerie am Kurfürstendamm gezeigt.

Im Sommer 1960 gastierten die Studenten mehrere Tage im Tübinger Clubhaus, der Ausstellungstitel war geändert worden zu „Dokumente zur NS-Justiz“. Auch hier wurde wiederholt versucht, auf die Studentengruppen, beteiligte Professoren und schließlich den Rektor der Uni einzuwirken – die Durchführung der Ausstellung war mehrfach infrage gestellt, ehe die Schau am 11. Juli 1960 startete.

Bei den im Clubhaus gezeigten Aktenkladden handelte es sich um die zum Teil qualitativ schlechten Fotokopien von Gerichtsprotokollen und Urteilen, von Justiz- und Personalakten, all dies als Belege für den Unrechtscharakter der NS-Justiz auf einfachste Art zusammengefasst. Als wichtige Fürsprecher der Ausstellungsmacher traten die Theologen Helmut Gollwitzer und Martin Niemöller sowie der Schriftsteller Golo Mann auf.

Doch auch die überwiegend wohlwollende Berichterstattung der Medien änderte nichts daran, dass etwa nach den Präsentationen in Karlsruhe und Berlin drei Senatoren des Regierenden Senats von Westberlin – der Bildungs-, der Innen- und der Justizsenator, alle Referendare im Lehramt und in Justizbehörden – schriftlich anwiesen, „sich von Machenschaften im Solde Pankows“ fernzuhalten. Das war eine Anspielung auf den mutmaßlichen Schwachpunkt der Schau: Viele der Akten, die Strecker und seine Mitstreiter analysierten, waren aus Ostberlin und anderen osteuropäischen Archiven stammende Fotokopien von Verhandlungsprotokollen und Todesurteilen bislang ungesühnter NS-Justizverbrechen.

Bestätigung von höchster Stelle

Selbst in Teilen der SPD gab es eine deutliche Abwehrhaltung. Es wurde gemutmaßt, die Studenten seien von der kommunistischen DDR-Führung gesteuert. Reinhard Strecker ist auch im Rückblick überzeugt von seinem Handeln: „Wir trafen uns damals in meiner Wohnung zur regelmäßigen Überprüfung und Identifikation aller Personen, die wir als Täter benannten, und fanden nach und nach immer weitere, viele Hundert Seiten starke Unterlagen. Das war eine immense Überprüfungsarbeit.“ Alles sollte stimmen.

Strecker und seine Mitstreiter bekamen unmittelbar nach der Karlsruher Schau Bestätigung von höchster Stelle: Der deutsche Generalbundesanwalt Max Güde (im Amt von 1956 bis 1961) bestätigte in einem Interview des Südwestdeutschen Rundfunks die Authentizität und Echtheit der von der Studentengruppe ausgestellten Unterlagen.

Güde, dessen damaliger Amtssitz auf dem Areal des Bundesgerichtshofs nur rund 200 Meter vom Ausstellungsort am Ludwigsplatz entfernt lag, widersprach auch der Behauptung, milde Urteile hätten im Dritten Reich Repressalien gegen verantwortliche Richter zur Folge gehabt. Doch auch der oberste Ankläger der Bundesrepublik kam daraufhin ins Kreuzfeuer: Er wurde wenig später vom CSU-geführten Bundesjustizministerium in Bonn angewiesen, „sich künftig aus der öffentlichen Debatte um die NS-Justizjuristen herauszuhalten“. Max Güde wechselte 1961 als Karlsruher Abgeordneter für die CDU in den Bundestag.

Reinhard Strecker erfuhr späte Genugtuung: Der „studentische Aufklärer“, wie ihn das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ nannte, erhielt in fortgeschrittenem Alter hohe Ehrungen. Sie kamen spät – aber nicht zu spät:. Im Jahr 2015 wurde Strecker das Bundesverdienstkreuz verliehen. Und im vergangenen Herbst erhielt Strecker vom SPD-Landesverband Berlin, dessen Mitglied er ist, trotz der zeitweiligen Anfeindungen aus seiner Partei eine Ehrenurkunde für sein „besonderes Engagement als Initiator der historischen Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz“ – unterzeichnet von SPD-Landeschef Michael Müller.

Die indirekten Folgewirkungen der Wanderausstellung waren immens. 1962 ermöglichte eine durch die Schau ausgelöste Gesetzesänderung Justizangehörigen, die in der NS-Zeit tätig waren, „auf Antrag den Eintritt in den Ruhestand“. Mit Paragraf 116 des Deutschen Richtergesetzes vom 8. September 1961 wurde dies den Richtern, die während des Krieges in der Strafrechtspflege mitgewirkt hatten, ermöglicht – „unter Belassung ihrer Versorgungsbezüge“. Das wirkte wie eine Art Generalamnestie. Daran wollte auch das Bundesverfassungsgericht nie rütteln. Der Präsident zu damaliger Zeit hieß Gebhard Müller, ein gebürtiger Oberschwabe. Er war im Amt von 1959 bis 1971 – mit Sitz in Nachbarschaft zum Ort der ersten Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ am Karlsruher Ludwigsplatz.

Quelle: Artikel von Stefan Jehle in der Stuttgarter Zeitung vom 16. April 2020