— Jg. 1929, Nr. 26 —
In diesen Wochen wird der Kampf gegen die Kriegsschuldlüge und den Sklavenvertrag von Versailles mit verstärkten Kräften geführt. In allen Orten werden Vorträge gehalten, in denen dem Publikum eingeredet wird, wir müßten nur deswegen zahlen, weil im Versailler Vertrag stehe, wir seien am Krieg schuldig, und die ahnungslosen Zuhörer können sich nicht mehr fassen vor Entrüstung über die unerhörte Machtgier und Ungerechtigkeit unserer Feinde.
Nun wird niemand behaupten, der Versailler Vertrag sei ein Bollwerk der Gerechtigkeit oder ein Mittel zur Befriedung Europas, und wer 1918 auf die vierzehn Punkte Wilsons vertraut hat oder wer, trotz allen Enttäuschungen, auch heute noch den Geist dieser Punkte wirksam sehen möchte, hat allen Grund, sich über den Versailler Vertrag zu beklagen. Aber merkwürdigerweise kommen die Angriffe gegen die Ungerechtigkeiten des Vertrages gerade von der andern Seite, nämlich von denen, die über den „Idealisten“ Wilson spotten und im Völkerleben nichts anderes anerkennen als gewaltsame Regelungen. Gerade die Militaristen und die Gewaltpolitiker sind es, die den Kampf gegen Versailles führen, und zwar deshalb, weil sich die Prinzipien, die sie selber anerkennen, diesmal gegen ihr eigenes Land und nicht gegen ein fremdes gewandt haben. Bei ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit ist es ihnen nicht um Gerechtigkeit, sondern um Macht zu tun; das Recht ist ihnen nur ein Mittel, kein Ziel. Und deshalb können wir, die wir dem Recht im Völkerleben zur Macht verhelfen wollen, diesen Kampf gegen Versailles nicht ohne weiteres mitmachen, auch wenn wir selber den Vertrag für ein übles Machwerk halten.
Die skrupellose Selbstgerechtigkeit derer, die jetzt an Recht und Moral appellieren und doch grundsätzlich Gegner der Moral in der Politik sind, kann durch nichts besser gekennzeichnet werden als durch die Untersuchung der Frage: wie hätte der Friedensvertrag ausgesehen, wenn Deutschland gesiegt hätte?
Man erinnert sich noch an die Siegfriedensprogramme unserer Alldeutschen, die halb Europa und ganz Afrika annektieren wollten. Daraus wollen wir jetzt nicht eingehen. Ernster zu nehmen sind schon die Programme der Industrie und der Obersten Heeresleitung. Noch im September 1917 hat Ludendorff im Falle eines Friedens gefordert: Annektierung der französischen Industriegebiete auf beiden Seiten der Maas, militärische Besetzung Belgiens, bis es sich politisch an Deutschland anschließt, Druck auf Holland, sich ebenfalls anzuschließen, Vergrößerung des afrikanischen Kolonialbesitzes usw. Noch weiter ist eine Denkschrift der Industrieverbände vom Mai 1915 gegangen; sie verlangt Annektierung der Festungen Verdun und Belfort, der Erzbecken von Briey und Longwy, der Kohlengebiete Nordfrankreichs bis Calais — kurz: die Somme als Grenze.
Fantasien seien das? Kann sein; aber wir haben ja als Beweis für den Machtkoller der deutschen Industrie und der Obersten Heeresleitung nicht nur solche Programme, sondern zwei abgeschlossene Friedensverträge: den von Brest-Litowsk mit Rußland und den von Bukarest mit Rumänien.
Im Frieden von Brest-Litowsk wurden von Rußland das Baltikum, Finnland, Russisch-Polen, Litauen, die Ukraine und Bessarabien losgelöst, ein Gebiet, das doppelt so groß ist wie Deutschland. Wilhelm II. war schon zum Herzog von Kurland, Livland und Estland bestimmt. Rußland mußte versprechen, das Gold der russischen Staatsbank an Deutschland abzuliefern und für ewige Zeiten von der gesamten Ölproduktion ein Viertel Deutschland zu überlassen.
Im Vertrag von Bukarest wurde Rumänien verkleinert, entwaffnet und wirtschaftlich „versklavt“ (so sagt man doch, deutsche Moralisten?). „Bis zu einem später zu vereinbarenden Zeitpunkt“ sollte das Land besetzt bleiben; die Truppenführung hatte das Aufsichtsrecht über alle Fabriken und Betriebe. Rumänien mußte auf 90 Jahre einer deutschen Gesellschaft das alleinige Recht zur Ausbeutung der Ölquellen überlassen. Auf 90 Jahre, nicht auf 58.
Das sind ein paar Bestimmungen aus den Verträgen von Brest-Litowsk und Bukarest, die von den Gesinnungsfreunden unserer jetzigen Unschuldslämmer abgeschlossen wurden. Sie legen die Vermutung nahe, daß der Vertrag von Potsdam, den die kaiserliche Regierung im Falle ihres Sieges abgeschlossen hätte, dem Vertrag von Versailles mindestens ebenbürtig geworden wäre. Wer das weiß, der sollte lieber, statt gegen die Ungerechtigkeiten der andern zu wüten (mit dem geheimen Ziel, es ihnen später zu vergelten), einmal in sich gehen und sich schämen.
1929, 26 Fritz Lenz
Die „Kriegsschuldlüge“
Artikel 231 des Versailler Vertrags
Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.
Siehe hierzu auch: