Der Weg zur Meinungsfreiheit

Die Herausgeber der Stuttgarter Zeitung, Josef Eberle (Fünfter von links) und Erich Schairer (rechts vorne), mit Redakteuren und Besuchern auf dem Dach des Tagblatt-Turms · Foto: Otto Maier

Nach der Kapitulation behandeln die Alliierten Deutschland zunächst wie ein besiegtes, nicht wie ein befreites Land. Für Demokraten begann die Stunde null mit Verspätung – auch mithilfe neuer Medien wie der Stuttgarter Zeitung. 

Vielleicht ist es nur eine Fata Morgana der Hoffnung, die der französische General Jean de Lattre des Tassigny festzuhalten versucht, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. „Aus den Kellern steigen Menschen, die vor Freude taumeln“, so beschreibt er die ersten Eindrücke von Stuttgart, an jenem 22. April 1945, als er mit seiner Armee die Stadt besetzt hat. Die Empfindungen der Deutschen sind zu jener Zeit nicht so eindeutig und bei den meisten wohl eher zwiespältig. „Zumindest an diesem Nachmittag überwog bei den meisten Bürgern, die mir begegnet sind, das Gefühl der Befreiung“, berichtet Rudolf Steiger, ein Augenzeuge. Es gibt jedoch durchaus gute Gründe, weshalb Bundespräsident Richard von Weizsäcker, auch ein gebürtiger Stuttgarter, 40 Jahre später seine Nation noch einmal nachdrücklich erinnern muss, dass es sich damals tatsächlich um einen Akt der Befreiung gehandelt hatte.Jedenfalls ist das Kriegsende, die Kapitulation des diktatorischen Regimes keineswegs die Stunde null für einen demokratischen Neuanfang in Deutschland. Daran denken die Siegermächte zunächst gar nicht. In Stuttgart gründen idealistisch gesinnte Demokraten unmittelbar nach dem Zusammenbruch der NS-Tyrannei „Kampfkomitees“, um das gesellschaftliche Leben neu zu organisieren. Diesen ersten Versuch einer demokratischen Selbstverwaltung unterbinden die französischen Besatzer jedoch strikt. Parteipolitische Aktivitäten bleiben vorerst verboten. Der am Tag nach der Besetzung installierte neue Oberbürgermeister Arnulf Klett scheitert noch im Juni 1945 mit dem Vorschlag, Gemeinderäte einzusetzen, die sich um die unmittelbaren Belange der Stadt kümmern sollen. So etwas komme „auf absehbare Zeit überhaupt nicht in Frage und kann in keiner Form diskutiert werden“, wird ihm beschieden. Davon erzählt ein Buch über „Stuttgart im Jahre Null“. Verfasst hat es der 2012 verstorbene Journalist Martin Hohnecker, viele Jahre stellvertretender Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung und Leiter der Lokalredaktion.

Planie statt Adolf-Hitler-Straße

Am 24. Mai 1945 veranlasst OB Klett immerhin so etwas wie eine nominelle Demokratisierung in Stuttgart. Er lässt die von den Nazis gekaperten Straßennamen umbenennen. Aus der Adolf-Hitler-Straße wird somit wieder die Planie. Auch anderswo im Stadtplan müssen Götzen der Menschenverachtung weichen, um Namenspatronen mit demokratischer Gesinnung Platz zu machen. So wird die nach dem rechtsradikalen General Ludendorff benannte Straße ein kleines Denkmal für den ermordeten Nazigegner Eugen Bolz, einst Präsident Württembergs. Ein bisschen Graswurzeldemokratie gestattet die französische Besatzungsmacht doch: Am 31. Mai erlaubt sie die Gründung eines Württembergischen Gewerkschaftsbundes. Der soll die Militärverwaltung in sozialen Fragen unterstützen. Nachdem die Nazis auf ihren „Volksempfängern“ schon wochenlang Sendepause hatten, ist von Juni 1945 an auch wieder ein zivilisiertes Rundfunkprogramm zu empfangen. Für das Programm von Radio Stuttgart verantwortlich ist ein Mann mit einschlägigen Erfahrungen: Josef Eberle. Vor dem Dritten Reich hatte er für den Süddeutschen Rundfunk gearbeitet. Als Leiter der Vortragsabteilung lehnte er einen Beitrag Hitlers ab, erhielt dann prompt Hausverbot bei dem Sender, als die Nazis 1933 das Funkhaus eroberten. Zwei Monate nach seinem Debüt am Mikrofon von Radio Stuttgart sollte Eberle Herausgeber der Stuttgarter Zeitung werden. Davon später mehr.Auch als die Amerikaner im Juli das Regiment in der Stadt übernehmen, bleibt demokratisches Engagement zunächst tabu. Oberst William W. Dawson, Militärgouverneur der US Army in Stuttgart, betont, dass „jede politische Betätigung zur Zeit verboten ist“. So will es die Direktive JCS 1067, eine Art Masterplan für die amerikanische Besatzungspolitik. „Deutschland wird immer als ein besiegtes und nicht als ein befreites Land behandelt werden“, erklärt Dawson, als er seinen Posten antritt.

Der demokratische Neubeginn 

Sein Verdikt, dies werde „immer“ so bleiben, verliert aber rasch die Gültigkeit. Ausgerechnet im Mitteilungsblatt der amerikanischen Militärverwaltung, der einzigen Zeitung, die es in Stuttgart zu der Zeit gibt, wird Dawson wenige Wochen später dementiert. Dort schreibt der schwäbische Sozialdemokrat Fritz Ulrich, seine Landsleute dürften aufatmen, „dass wir auf dem Weg zu einem freien demokratischen Staat sind“. Tatsächlich vereinbaren die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz Anfang August 1945, „die endgültige Umgestaltung des politischen Lebens auf demokratischer Grundlage vorzubereiten“. Bei Radio Stuttgart verkündet der US-Offizier Charles L. Jackson, er hoffe, dass der Alltag in der besetzten Stadt bald wieder „in den normalen Bahnen der Demokratie“ ablaufen könne. Der demokratische Neubeginn verläuft dann ziemlich rasant. Am 16. August lassen die Amerikaner die beiden Liberalen Reinhold Maier und Theodor Heuss in der Olga­straße 11 antreten, wo die Militärregierung ihren Sitz hat. Maier wird angewiesen, eine Namensliste für eine künftige Landesregierung aufzustellen. Er selbst soll Ministerpräsident werden – alles noch ohne demokratische Legitimation. Als Heuss ihn darauf anspricht und fragt, wer ihre Regierung eigentlich wieder absetzen könnte, antwortet er: „Entweder die Amerikaner oder die Franzosen oder vielleicht gar die Russen. Und wenn es diese alle nicht tun, dann das dankbare schwäbische Volk.“

„Es geht vorwärts“

„Auf Anordnung der Militärregierung“ lässt Oberbürgermeister Klett am 31. August 1945 per Aushang mitteilen, dass „die Bildung von politischen Parteien auf demokratischer Grundlage“ wieder zugelassen sei. Versammlungen, an denen mehr als fünf Leute teilnehmen, bedürfen jedoch einer Genehmigung. In einer seiner Verlautbarungen appelliert Klett an die Stuttgarter: „Trotz dem Los, das jeden von uns betroffen hat, kann nur die Verständigung der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen.“ Zur Verständigung braucht es aber mehr als amtliche Bekanntmachungen. Das sehen auch die Amerikaner bald ein. Im August lassen sie eine Wochenzeitung drucken: die „Stuttgarter Stimme“. Doch sie wird unter Regie der Militärverwaltung redigiert. Am 17. September erhalten schließlich drei Deutsche die Lizenz für ein unabhängiges Blatt: Henry Bernhard, Karl Ackermann und ebenjener Rundfunkmann von Radio Stuttgart – Josef Eberle. „Es geht vorwärts“ ist der Leitartikel in der ersten Ausgabe der Stuttgarter Zeitung betitelt, die tags darauf erscheint. Sie umfasst nur vier Seiten, wird aber in einer Auflage von 400 000 Exemplaren gedruckt. Die neu erlangte Pressefreiheit sei „das beste Mittel gegen jenen Pessimismus unserer Landsleute, der in den Ruinen unserer Heimat die Hoffnung auf eine bessere Zukunft begraben sieht“, schreibt der Kommentator Ackermann, einer der drei Lizenzträger. „Nichts kann deutlicher unsere eigene ehrliche Absicht bekunden, mit dem Nazismus fertig zu werden, als ein vernünftiger Gebrauch dieser ersten Freiheit in dem Sinne, dass wir uns von allen Vergewaltigungsmethoden und jeder Abtötung von zuversichtlichem Glauben und freier Meinung distanzieren.“Die Gründer gehen bald ihre eigenen Wege: Ackermann, der während des NS-Regimes im KZ gesessen hatte und der Kommunistischen Partei nahesteht, gibt später den „Mannheimer Morgen“ heraus. Bernhardt, früher Privatsekretär des Friedensnobelpreisträgers Gustav Stresemann, gründet im Jahr darauf die Stuttgarter Nachrichten. Dort wiederum stand über Eberle zu lesen, während des Dritten Reiches sei dessen „Weste so weiß geblieben wie die Flügel des Pegasus“. Er habe es verstanden, „seinem überparteilichen, liberalen Blatt Adel zu verleihen und es zu einer der angesehensten Tageszeitungen der Bundesrepublik zu machen“.

Der große Eberle

Die „Zeit“ nennt Eberle den „gebildetsten deutschen Journalisten“. Vielleicht war Iosephus Appellus der Grund dafür. Unter diesem Pseudonym verfasst Eberle lateinische Verse, die an Ovid und Martial erinnern. Er schreibt aber auch in einem urwüchsigen Schwäbisch, dies unter dem Namen Sebastian Blau. Der Mann ist eigentlich Buchhändler von Beruf. Nachdem ihn die Nazis beim Süddeutschen Rundfunk die Tür gewiesen haben, sperren sie ihn für sechs Wochen im Konzentrationslager Heuberg ein. 1936 wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Kurz vor Kriegsende muss er mit seiner Frau untertauchen, die einer jüdischen Familie entstammt. Eberle bleibt geschäftsführender Herausgeber der Stuttgarter Zeitung bis 1971, 15 Jahre später verstirbt er wenige Tage nach dem 85. Geburtstag. Das Blatt ist sein Lebenswerk geworden, schreibt Oskar Fehrenbach, der spätere Chefredakteur. Und dieses Lebenswerk „gründete sich auf den Willen, alles in seinen Kräften Stehende dazu beizutragen, dass sich die Herrschaft des braunen Terrors niemals mehr wiederholen könne; und es war gerade die bei Voltaire erlernte Toleranz, die Eberles Instinkt für jede Form von Intoleranz, von politischer Einseitigkeit und parteipolitischer Illiberalität schärfte“.

Quelle: Artikel von Armin Käfer in der Stuttgarter Zeitung vom 8. April 2020

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