— Jg. 1926, Nr. 32 —
Die Konsolidierung Europas in irgend einer Form ist heute zu einer Notwendigkeit geworden. Ich glaube, daß man diese These aufstellen kann, ohne den Widerspruch eines denkfähigen Menschen zu finden.
Die Konsolidierung Europas ist durch die Wirtschaftsnot notwendig geworden, in der (mit Ausnahme des Weltreichs England) die europäischen Einzelstaaten sich der erdrückenden Überlegenheit Nordamerikas gegenüber befinden. Ich habe die europäischen Einzelstaaten einmal mit kleinen Krämern verglichen, die in der Einzelkonkurrenz mit dem großen Warenhause Nordamerika rettungslos Bankrott machen müssen, wenn sie außerdem noch vom Zoll- und Wirtschaftskampf untereinander geschwächt sind oder gar Prozesse und Raufereien untereinander veranstalten. Die einzige Rettung für diese zu Krämern gewordenen, einst sehr wohlhabenden Kaufleute ist die Genossenschaft, also irgend eine Art Gemeinschaft.
Sie müssen, gar nicht der Moral wegen, sondern schon ganz allein aus nüchternem Selbsterhaltungstrieb, zusammenstehen, jeden Gedanken an Krieg untereinander begraben. Aus einem nationalen Empfinden heraus — das ich mir von keinem Menschen abstreiten lasse — predige ich für meine Person den Frieden. Weil ich weiß, daß ein neuer Krieg den Untergang Europas und damit Deutschlands bedeutet.
Es ist heute gar nicht an der Zeit, die Friedensfrage vom Weltanschauungsstandpunkt zu behandeln. Jede Weltanschauung ist „unrichtig“, weil jede subjektiv sein muß. Hier aber liegt ein objektiver Zwang zu einer neuen Gemeinschaft vor. Ein Zwang, der dem weltanschaulichen Pazifisten vielleicht sympathisch, dem weltanschaulichen Gewaltfreund vielleicht unsympathisch ist — der aber eben für beide schlechterdings ein Zwang ist.
Niemand wird vom deutschen Nationalisten verlangen wollen, daß er den Franzosen liebt. Auch der französische Nationalist liebt den Deutschen. nicht. Aber beide müssen in die Gesellschaft: „Deutschland, Frankreich und Cie.“ eintreten und für gemeinschaftliche Interessen arbeiten. Sie müssen, kaufmännisch gesprochen, aus zwei Konkurrenzfirmen eine gemeinschaftliche Firma werden und andere, noch kleinere mit aufnehmen. Deshalb soll und braucht keiner der Knecht des anderen zu werden.
Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch ist dies in Anbetracht der Tatsache notwendig, daß alle anderen Erdteile sich konsolidieren. Wir schreiten rasch aus der Periode nationaler Bildungen in die der kontinentalen hinüber. Der panamerikanische Völkerbund ist im Werden. In Afrika tönt der Ruf: „Afrika den Afrikanern“. Die panasiatische Idee, deren militärische Gestaltung Rußland übernommen hat, mit einem Erfolge, der leider in Deutschland noch gar nicht hinreichend bekannt ist, wird in wenigen Jahren sogar eine militärische Gefahr für Europa bedeuten.
Angesichts dieser Bildungen ist es für Europa eine Pflicht der Selbsterhaltung, auch an seine eigene Konsolidierung zu denken. Ohne sie kommt es unter die Räder!
Es gibt aber kein gesundes Deutschland in einem zerbrochenen Europa. Wir sind unlösbar mit dem Schicksal des Kontinents verkettet.
Darum müssen wir Europäer werden. Wir müssen das Gemeinsame der Not, der Gefahr, der dringenden Notwendigkeit gemeinschaftlichen Fühlens und Handelns endlich verstehen. Ich gestehe offen: ich würde niemals ein Wort für Frieden und Versöhnung schreiben, wenn ich wüßte, daß Frieden und Versöhnung Deutschland schaden würden. Nur weil ich weiß, daß es gar keine andere Rettung gibt, darum schreibe ich.
Andere handeln in ihrem Gebiete ebenso und gründen wirtschaftlich im Kleinen, was sie politisch im Großen vielleicht (ich sage: vielleicht, da ich die Ansichten der Herren nicht kenne) als Internationalismus geißeln. Soeben ist ein internationales Röhrenabkommen unter Dach gebracht worden, das die Röhrenindustrien von Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien umschließt. Das ist ein Schritt zum wirtschaftlichen Europa. Er erfolgte jedenfalls, weil er notwendig war. Hunderte von anderen Schritten werden folgen. Die europäische Zollunion ist eine Selbstverständlichkeit. Sie könnte bei größerer Einsicht der politisch Maßgebenden heute schon da sein.
Europa kommt, weil es kommen muß. Und mit Europa kommt der europäische Friede als eine Selbstverständlichkeit. Die Sache liegt jenseits von Sympathie und Antipathie.
1926, 32 Franz Carl Endres