Die Stuttgarter Werkbundhäuser
— Jg. 1927, Nr. 39 —
Sage mir keiner etwas gegen die alten Häuser. Ich bin in einem solchen aufgewachsen; ich habe schöne Stunden in alten ländlichen Pfarrhäusern und kleinstädtischen Bürgerhäusern verlebt.
Was gab es da für prächtige große Stuben, für gewaltige, helle Treppenhäuser mit bequemem Aufstieg, für riesige Flure (Öhrne sagt man bei uns), für unendliche Bühnen (Bodenräume sagt man bei Ihnen), zwei, drei übereinander, für unheimliche, tiefe und gute Keller! Platz hatte man in den alten Häusern! Freilich, es gab auch Bügel und Winkel, dunkle Alkoven, muffige Kammern, schlechtriechende Aborte. Aber das machte nichts, darin brauchte man sich im allgemeinen nicht aufzuhalten. Man war bei gutem Wetter ja viel im Freien, man hatte den Garten beim Haus, und in den Wald oder ins Wasser waren es fünf oder zehn Minuten. Badezimmer, nein, das war keines vorhanden. Aber man behalf sich. Man badete nicht so viel damals. Man hielt es nicht für so notwendig wie heute.
Viel Arbeit machten jene Wohnungen freilich, besonders im Winter, wenn es darin behaglich sein sollte. Kräftige Mägde brauchte man, und sie hatten wenig Freistunden. Samstags, wenn geputzt wurde, ging man gern aus dem Wege; über die große Frühjahrs- oder Herbstreinigung verreiste man am besten. Aber die Hausfrauen und die Hausmägde wußten das nicht anders, und hatten daneben merkwürdigerweise noch Zeit, ein halbes oder ganzes Dutzend Kinder aufzuziehen, wunderbar zu kochen, zu backen, einzumachen, zu nähen, zu flicken, zu waschen und dazwischendurch Kaffeevisiten, Metzelsuppen und fabelhafte Bowlen zu arrangieren. Man hatte Zeit in den alten Häusern.
Heute leben wir anders als damals. Wir haben keine Zeit mehr, und wir sitzen in den großen Städten klumpenweise aufeinander: wir haben keinen Raum mehr. Garten beim Haus, Arbeit im Freien, Spaziergang ins Grüne nach Feierabend, Kinder, die sich im Grase tummeln oder abends um den großen Tisch herumsitzen: wer kennt das noch? Einem Drittel von uns, bald wird es die Hälfte sein, sind das sagenhafte Dinge. Man mag es noch so sehr bedauern: es ist so. Und deshalb brauchen wir andere Häuser.
Was wir in den letzten 30 Jahren in den Städten und Vorstädten an Häusern gebaut und an Wohnungen eingerichtet haben, sind verkümmerte, häßliche, deplazierte Versuche, die alte Wohnform und Bauart beizubehalten. Die heutige Großstadt-Wohnung ist eine Verkrüppelung der alten Landwohnung. Aus den großen Stuben sind kleine geworden, aus dem Flur ein dunkler Gang, aus Keller und Bodenraum je ein Stück Verschlag, aus Veranda oder Balkon ein Vogelkäfig, aus dem Garten hinterm Haus ein Blumenständer mit Zimmerlinde. Geblieben sind Kammern, Winkel, lichtlose Räume; und geblieben ist der Väter- und Urväterhausrat, der in die enge Wohnung hineingestopft wird, weil er unentbehrlich scheint. Soweit er nicht geblieben ist, wird er von einer fleißigen Industrie reproduziert, nur um etliche Grade schlechter, geschmackloser und unpraktischer als ihn früher ein ehrsames Handwerk geliefert hat. In einer heutigen durchschnittlichen „bürgerlichen“ Stadtwohnung ist es nicht auszuhalten vor Trödelkram, Staubfängern, Vorhängen, gräßlichen Tapeten, unmöglichen Möbeln und Bildern.
Wer das empfindet, und allmählich sind das doch viele unter uns, für den ist die Werkbundsiedlung auf dem Weißenhof bei Stuttgart gebaut worden. 33 Häuser, teils Einzel-, teils Doppel- und Reihenhäuser, auch eine richtige „Mietskaserne“ ist dabei. Die Erbauer sind eine Anzahl von mehr oder weniger berühmten modernen Architekten, Poelzig, die beiden Taut, Behrens und andere; auch Ausländer, ein welscher Schweizer, ein Belgier, zwei Holländer sind dabei.
Diese Ausstellung, mag man an ihr im Einzelnen noch so viel auszusetzen haben, ist eine erlösende Tat, für die dem Werkbund und der Stadt Stuttgart Dank und Anerkennung gebührt. Hier sieht man, daß wir endlich im Begriff sind, Häuser und Wohnungen herzustellen, wie sie zu unserer Zeit gehören, in denen sich heutige Menschen wohl fühlen können. Es sind Häuser aus neuem Material (Holz und Ziegel treten zurück gegen Beton, Eisen, Kunststein) und mit neuen, ungewohnten Formen (durchweg mit flachem Dach). Sie haben viele und große Fenster, kleine aber helle Räume mit beweglichen Wänden, wenig Nebenräume, keine Keller, keine Böden (Bühnen), eingebaute Schränke; keine Tapeten, keine Portieren, keine überflüssigen Möbel; alles ist glatt, einfach, praktisch, leicht zu reinigen, nahe beieinander. Der entsetzliche Begriff „Zimmerschmuck“ existiert nicht mehr; dafür kommt an den Wänden die Farbe zu Ehren (worüber der graue Spießer besonders eifrig den Kopf schüttelt). Wenn ich das hier so summarisch sage, so bitte ich den Leser, nicht etwa zu meinen, daß alle die Häuser ein Typ seien. Sie sind sehr verschieden, vom beinahe altmodischen Behrens bis zum revolutionären Le Corbusier; vom ganz kleinen Reihenhaus, dessen hervorragendste Lösung der Rotterdamer Stadtbaumeister Oud gefunden hat, bis zum beinahe üppigen Einfamilienhaus eines Schneck oder Gropius.
Die öffentliche Meinung und die Presse verhält sich der Ausstellung gegenüber, wie man sich denken kann, ziemlich verständnislos. Die Sachverständigen zählen einem an allen Fingern die Fehler vor, die gemacht worden seien, die dieser oder jener „Lösung“ anhaften. Natürlich haben sie recht. Es wimmelt von Fehlern; auch grundsätzliche und schwerwiegende Fragen wie nach Beheizung, Wetter- und Wasserschutz, Haltbarkeit sind durchaus nicht überzeugend oder endgültig beantwortet. Aber das ist ja auch nicht möglich; dazu bedarf es noch jahre-, jahrzehntelanger Erfahrung. Und Einseitigkeiten, Übertreibungen, wie man sie findet, sind bei jeder Propaganda unvermeidlich.
Was die Laien auszusetzen haben: in diesen Häusern sei kein „Familienleben“ möglich, dürfe man keine Kinder haben, dürfe man nicht krank werden und nicht sterben, und dergleichen, stimmt ebenfalls im großen Ganzen. Bloß ist es an die falsche Adresse gerichtet. Der Stadtmensch von heute hat sowieso kein Familienleben. Er hat keine Kinder oder nur ganz wenige, und die würden meistens besser in einem Internat aufwachsen als bei den Eltern. Er wird in der Klinik geboren, und wenn er krank wird, dann kommt er ins Krankenhaus.
Wenn wir noch Verhältnisse hätten wie vor hundert Jahren, dann brauchten wir keine neue Bauart. Und wo solche Verhältnisse noch teilweise bestehen, nämlich auf dem Lande, wird man wahrscheinlich auch nicht so bauen wie auf dem Weißenhof. Wo sie aber nicht mehr bestehen, in der modernen Großstadt, da wird man künftig so bauen und so wohnen wie es dort gezeigt ist. Darum handelt sich’s, und deshalb ist die Werkbundausstellung so wertvoll und wichtig.
Vielleicht wäre dieser springende Punkt manchem ahnungslosen Gemüt etwas deutlicher geworden, wenn die Ausstellungsleitung in Figura statt nur auf einem Plakat veranschaulicht hätte, wie die alte Wohnung neben der neuen aussieht. Mitten unter den „verrückten“ Werkbundhäusern müßte eine Leistung irgend eines „normalen“ Bautigers stehen; und die Wohnräume darin müßten genau so eingerichtet sein wie sie es in den meisten Fällen heute sind. Man hätte sich dabei ja von Herrn Pazaurek, dem Schöpfer des Greuelkabinetts im Landesgewerbemuseum, beraten lassen können. So, durch Beispiel und Gegenbeispiel, wäre der Zweck des Unternehmens schärfer hervorgetreten; und die Ausstellung wäre um eine Riesenattraktion bereichert gewesen.
Schade, daß das nicht geschehen ist. Man hätte ein solches „altes Haus“ unter den neuen vermutlich glänzend verkauft. Und wenn nicht, fünfzigtausend Mark wäre der Spaß wert gewesen.
1927, 39 Hans Hutzelmann