Erneuerung

— Jg. 1921, Nr. 1 —

Weihnachten und Neujahr gehören zu den Terminen, an denen auch die Presse, vor allem natürlich die mit der Leitartikel-Fabrikware der Korrespondenzbüros gespeiste Provinzpresse, zwischendurch im Kanzeltone zu reden pflegt. Manche Inseratenplantage verschreibt sich sogar dazu einen leibhaftigen Pfarrer, der die Gelegenheit gerne benützt, einige „Sprüche“ durch die Rotationsmaschine laufen zu lassen. Der Brauch ist mir wegen seiner Geschmacklosigkeit und inneren Unwahrhaftigkeit immer widerlich gewesen; und die geistigen Erzeugnisse, die bei dieser Gelegenheit die Farbwalze passieren, sind selten erfreulich.

Weiß man denn immer noch nicht, daß das Moralpredigen, möge es selbst mit der Zunge eines Abraham a Santa Clara geschehen, noch nie etwas gefruchtet hat? Wird nicht seit 2000 Jahren christliche Sittlichkeit gepredigt, ohne daß die Menschheit sich dadurch in ihrem natürlichen und manchmal sogar unnatürlichen Egoismus hätte im Geringsten stören lassen?

Da hat sich, vor einem halben Jahr glaube ich, in Berlin ein „Bund der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung“ gebildet. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß bisher eine einzige Zigarette weniger geraucht, eine Flasche Parfüm weniger verspritzt, eine Pulle Sekt weniger konsumiert, oder irgend ein unnötiger und angesichts unserer Lage sträflicher Aufwand unterblieben wäre.

Man hätte denken können, die Revolution werde auch eine „gesellschaftliche“ Umwälzung bringen. Wenn Bürger und Arbeiter Minister werden, dann werde vielleicht auch die einfache Bürgersitte und der schlichte Sinn des Arbeiters den „guten Ton“ feudaler Herkunft ablösen. Aber geradesogut wie irgend ein Parvenü der Vornovemberzeit haben sich — mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, z. B. dem Reichswirtschaftsminister a. D. Wissell — die neuen Männer bemüht, so rasch als möglich umzulernen, sich modisch auszustaffieren, „standesgemäß“ aufzutreten und den ganzen „besseren“ Lebenswandel mitzumachen. Der Herr Reichspräsident Ebert ist auf Pressebällen, Kino-Premieren, Rennen ein häufig gesehener Gast, und die illustrierten Blätter zeigen ihn als höchst elegante Erscheinung im Kreis des Gefolges. Ich verlange gewiß nicht, daß er Harmonikahosen und Gummiwäsche tragen und in Arbeiterkneipen verkehren solle; aber daß er Bälle besucht und die neueste Mode mitmacht, will mir nicht gefallen. Die neue Oberschicht hat es nicht verstanden — trotzdem unsere Armut ihr eine glänzende Chance geliefert hätte — die gesellschaftlichen Sitten zu erneuern, einen neuen, zeitgemäßen und besseren „guten Ton“ einzuführen.

1921, 1 Sch.