Eh du sie wählst, frag die Partei…
— Jg. 1928, Nr. 17 —
Die Filmindustrie benützt den Wahlkampf dazu, den Film von der Lustbarkeitssteuer zu befreien: sie zeigt in den Kinos täglich einigen hunderttausend Wählern das Sprüchlein: „Eh du sie wählst, frag die Partei: Werden Filme steuerfrei?“
Das ist die einzige konkrete Wahlkampfparole, die bis jetzt ausgegeben worden ist. Sonst hört man nichts als Phrasen: „Nie wieder Bürgerblock! Nieder mit Bazille! Keine Deutschnationalen mehr ihn der Regierung!“ Und so weiter. Aber niemand gibt Antwort auf die Frage: „Ja, was dann, wenn statt des Bürgerblocks die große Koalition regiert?“ Solche nasenweisen Frager vertröstet man höchstens mit der billigen Redensart: „Das wird sich schon finden.“ Gewiß, das wird sich finden, wir habens ja schon etliche Male gefunden: ein paar Ministerstühle wechseln ihre Be-sitzer, aber die Politik – die bleibt die gleiche.
Warum das? Unter anderem deshalb, weil bloß die Filmindustrie so ein Wahlsprüchlein ausgegeben hat, im übrigen aber die Parteien und Kandidaten, eh sie gewählt werden, nach gar nichts gefragt werden. Und man könnte so viele Fragen stellen an die, die unseren Willen vertreten sollen. Z.B.:
1. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wie soll nach deinem Willen das neue Strafgesetz aussehen? Wirst du dich dafür einsetzen, daß die Todesstrafe verschwindet? Und garantierst du, daß du es erreichst? Trotz Zentrum?“
2. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Was wirst du tun, um die Justizkrise zu beseitigen? Wirst du verlangen, daß die Richter die Tat eines kommunistischen Arbeiters mit dem gleichen Maßstab messen, wie die eines deutschnationalen Arbeiters? Wirst du die (wenigstens zeitweise) Absetzbarkeit der Richter verlangen?“
3. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wirst du dafür sorgen, daß die Pazifistenverfolgungen aufhören? Daß einer nicht mehr dafür bestraft wird, daß er ungesetzliche Handlungen aufdeckt?“
4. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wirst du gegen den Reichswehretat stimmen, wenn die Ausgaben nicht bedeutend niedriger werden? Wirst du zu verhindern suchen, daß der unsinnige Panzerkreuzer gebaut und das Geld für den Bau weiterer Panzerschiffe bewilligt wird?“
5. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Welche Vorschläge hast du für die Abrüstung? Welche zur Verhinderung der deutschen Aufrüstung?“
6. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Was wirst du tun, damit wir noch in diesemJahrdem deutschen Einheitsstaat wenigstens einen kleinen Schritt näher kommen?“
7. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wirst du fordern, daß endlich das Ausführungsgesetz zum Diktaturartikel der Weimarer Verfassung (Artikel 48) zustandekommt? Wirst du dabei zu erreichen suchen, daß auch im Ausnahmezustand die oberste Gewalt nicht in die Hand eines Militärs gegeben werden darf?“
8. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wie steht’s denn… hm… mit dem… hm, hm… Schulgesetz? Was wirst du tun, wenn das Zentrum seinen Entwurf wieder vorlegt und du in der Regierung bist, liebe Partei? Warum redest du denn vor den Wahlen gar nichts davon?“ (Stimme aus dem Hintergrund: „Blöder Esel wo kämen wir denn hin, wenn wir uns auf solche Einzelheiten festlegen wollten?“ Wahrscheinlich nicht in die Regierung, weiß schon.)
9. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Was wirst du für die Siedlung tun? Werden in den nächsten Jahren, wenn du uns zu regieren hilfst, mehr Bauernsöhne angesiedelt werden als in den letzten?“
10. Eh du sie wählst, frag die Partei: „Wirst du dafür sorgen, daß mehr Wohnungen gebaut werden als bisher? Daß in vier Jahren nicht mehr eine Million Wohnungen in Deutschland fehlen?“
So, das sind ein paar Fragen; es gibt noch fünfmal mehr. Aber wer hält sie den Kandidaten vor, die jetzt landauf landab für ihre alleinseligmachende Partei die Dummen suchen? Wer zwingt sie zur Erwiderung, zur Erwiderung nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat? Wer legt sich so einen Fragezettel an und holt ihn nach vier Jahren wieder hervor, um zu sehen, was sich geändert hat? Niemand. Niemand. Niemand. Mit einem Wort: bei uns fehlt die Kontrolle der Partei durch die Wähler. Für die paar Wahlkampfwochen entdecken die Bürger ihr politisches Interesse. Dann dösen sie wieder weiter.
„Verschlaf die Zeit, vergiß das Denken, verändere nie dein Schafsgesicht! Laß dich von jedem Ochsen lenken, und wenn er stößt, so muckse nicht.“ Nach vier Jahren werden sie wieder für ein paar Wochen aufgeweckt. Dann aber gleich: „Der Teufel soll die Politik holen! Man hat doch wahrhaftig Wichtigeres zu tun.“ Ohne Zweifel, man hat Wichtigeres zu tun als über das Wort nachzudenken: „Wenn wir nicht Politik treiben, wird sie mit uns getrieben“, und deshalb Politik zu treiben und nicht zu schlafen.
Guten Morgen, Wähler!
1928, 17 · Hermann List