[Eine Fiktion]
W. T. B. : Berlin, 21. März 1931, 7 Uhr. Heute Morgen 1/2 5 Uhr haben polnische Freischärler östlich von Schlochau die deutsch-polnische Grenze überschritten. Das Reichskabinett ist sofort unter dem Vorsitz des Reichswehrministers Geßler zu einer Sitzung zusammengetreten und hat für ganz Deutschland den Kriegszustand erklärt.
Extrablatt des „Temps“: Paris, 21. März 1931, 7 Uhr M.E.Z. Wie Havas aus Warschau meldet, hat ein deutsches Fliegergeschwader heute früh gegen 1/2 4 Uhr über verschiedenen polnischen Dörfern, die im tiefsten Frieden lagen, Bomben abgeworfen und ist in Richtung Warschau weitergeflogen. Die polnische Regierung hat daraufhin dem deutschen Gesandten die Pässe zugestellt und die Mobilmachung angeordnet.
Berliner Lokalanzeiger: Wie wir soeben (1/2 8 Uhr) erfahren, hat das Kabinett an Polen den Krieg erklärt und in einer Verfügung angeordnet, daß die allgemeine Wehrpflicht im Reich wieder eingeführt sei. Wir halten die letztere Maßnahme für gänzlich überflüssig, sind wir doch voll und ganz davon überzeugt, daß alle Deutschen, ohne Unterschied des Standes oder der Konfession, dem Ruf des längst ersehnten Augenblicks folgen und zum heiligen Krieg gegen das räuberische Polenpack ausziehen werden.
Tägliche Rundschau: Berlin, 22. März. Von besonderer, dem Auswärtigen Amt nahestehender Seite erfahren wir: Seitdem Polen voriges Jahr den Ostlocarnopakt gekündigt hat, waren unsere Beziehungen zu diesem barbarischen Volk sehr gespannt. Bisher haben die Geduld und der Friedenswille unserer Regierung zwar den Ausbruch eines offenen Konfliktes immer noch verhindern können, ob es aber diesmal noch gelingen wird, nachdem die polnische Armee ohne jeden Grund Deutschland im tiefsten Frieden überfallen hat, das steht in Gottes Hand. Die Meldungen von einer Kriegserklärung und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sind zwar noch etwas verfrüht, wir stehen aber nicht an, zu erklären, daß wir diese Maßnahmen je eher je lieber begrüßen werden. Denn der polnische Korridor muß jetzt endlich einmal ausgeräuchert werden. Und wir haben über unsere Haltung nie einen Zweifel aufkommen lassen: wir sind national bis auf die Knochen. — Wie uns Herr Oberhofprediger Dr. D. Döhring, dessen Kriegsabende im Weltkrieg noch in guter Erinnerung sein werden, gütigst mitteilt, wird er heute Abend im Lustgarten einen Feldgottesdienst abhalten. Wir zweifeln nicht daran, daß ganz Berlin aus seinen Worten Trost und Kraft für die kommenden schweren Tage schöpfen wird. Gott segne unser deutsches Vaterland in dieser schicksalsschweren Stunde!
W.T.B.: Berlin, 22. März, 11.50 Uhr. Soeben hat sich Prinz Wilhelm von Preußen, der älteste Sohn des Kronprinzen, als Freiwilliger beim 1. Gardekürassierregiment gemeldet. — S. M. Kaiser Wilhelm hat in Doorn einen Hausgottesdienst veranstaltet und den Segen Gottes auf die deutschen Waffen herabgefleht.
Dr. Wirth im „Berliner Tageblatt“: Tief erschüttert steht jeder gute Europäer vor den Trümmern seiner Arbeit. Menschenwerk! Und jetzt hat Gott gesprochen. Noch einmal muß Europa durch Blut schreiten, bevor es in Einigkeit und Brüderlichkeit den Tempel der Menschheit errichtet. Aber diese Betrachtung von einem höheren Standpunkt aus darf uns nicht abhalten von dem Bekenntnis: Wir sind unschuldig. Ja, unschuldig sind wir. Und das Blut aller deiner Söhne, deutsche Republik, komme über die Missetäter jenseits der Weichsel! Der junge Staat, dem wir im innersten Herzen anhangen, hat jetzt seine Feuertaufe zu bestehen. Auf in den Kampf, deutsche Republik!
Vorwärts: Berlin, 23. März. Wir haben uns bisher, da das Auswärtige Amt sehr schweigsam war, jeder Stellungnahme enthalten und nur die amtlichen Nachrichten gebracht: den frevelhaften Überfall polnischer Banditen, die Kriegserklärung Deutschlands an Polen, die deutsche Mobilmachung, die Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland (die mit der erlogenen Meldung, deutsche Flugzeuge hätten Bomben über polnischen Dörfern abgeworfen, begründet wurde) und den ersten herrlichen Sieg der deutschen Waffen bei Schneidemühl. Jetzt aber, nachdem unser einstiger Reichspräsident Generalfeldmarschall v. Hindenburg von Hannover nach Berlin geeilt ist (völlig aus eigenem Antrieb, und nicht, wie verblendete Kommunisten behaupten, auf Veranlassung des Herrn v. Tirpitz) und in tiefbewegten Worten zur Einigkeit und zum Gottvertrauen gemahnt hat, rufen wir dir, deutscher Arbeiter, zu: Zieh in den Kampf für dein Vaterland, für Menschenwürde und Sozialismus! Die Kommunisten aber mögen bei den nächsten Wahlen sehen, wohin sie mit ihrer landesverräterischen Propaganda kommen.
Die Sonntags-Zeitung: Weltkrieg, Ruhrkampf — und jetzt geht der Schwindel zum drittenmal los. Wer’s noch nicht geglaubt hat, daß die Menschen dumm und unbelehrbar sind, der weiß es jetzt ganz sicher. Deutschland rast wieder vor Begeisterung, die Leute schlucken faustdicke Lügen wie himmlische Wahrheit, und in allen Ländern laufen die Menschen in die Kirchen, um den Herrgott zu bitten, er möge möglichst viele ihrer Brüder vergasen. Gottvater hat sich sicheren Nachrichten zufolge entschlossen, das Ressort der Einzelseelsorge seinem Sohn zu übertragen, da er selbst mit dem Segnen von Fliegerbomben und Granaten genügend beschäftigt ist. Eine derart ekelh . . . (Der Rest des Inhalts ist von der Zensur gestrichen worden.)
1927, 38 Hans Lutz