— Jg. 1926, Nr. 25 —
In Hannover benehmen sich Studenten absichtlich, bewußt und systematisch wie Lausbuben, indem sie den Professor Theodor Lessing anflegeln, seine Vorlesungen stören, ihre eigenen Schulstunden schwänzen, um Versammlungen abzuhalten, ihr Pensum nicht lernen, Demonstrationsausflüge machen, Phrasen in die Welt posaunen, bei denen sie sich nichts gedacht haben und auch andere sich nichts denken können. Der Stahlhelm speist sie, die reaktionären Kücken anderer deutschen Hochschulen schicken ihnen Sympathiekundgebungen, halten auch Versammlungen ab, inszenieren Kundgebungen und verkünden tragisch und offiziell besondere Streiktage, an denen sie durch körperliches Fernbleiben aus den Hörsälen sinnfällig daran erinnern, daß sie auch sonst, mit dem, was man in ihren Kreisen Geist zu nennen beliebt, nicht dort sind. Und das alles aus Sympathie für ihre Mitarmen im Geiste. Böse Buben sympathisieren immer miteinander.
Die ganze Studentenschaft der technischen Hochschulen in Deutschland nebst einiger Handelshochschulen, nebst einiger landwirtschaftlicher Hochschulen, nebst einiger „richtigen“ Universitäten, nebst einer erklecklichen Anzahl nichtakademischer Trottel schäumt, geifert, tobt gegen einen einzigen Mann. Einen Privatdozenten, einen Republikaner, einen Antimilitaristen, einen einfachen, aber klaren denkenden Menschen. Einen Juden.
Und dieses kleine Jüdchen, das übrigens nicht einmal reinjüdischer Abstammung ist, evangelisch gewesen und freiwillig zum Judentum übergetreten ist, hat die Stirn, der entfesselten Meute der teutschen Jüngelchen, hinter denen hetzend die Rechtsparteien mit ihrer Presse, reiche Eltern mit ihrem Geld und mißgünstige Professoren mit ihrem Haß und ihrer Autorität stehen, zu trotzen, einfach zu trotzen. Er weicht nicht. Er will seine Stelle nicht aufgeben, obwohl sein Rektor ihm deutlich gesagt hat, daß er ihn nur ungern schützt, obwohl seine Kollegen aus Angst vor der angedrohten Schließung der Hochschule in einem Dokument der Schande von ihm abgerückt sind, und obwohl sogar der Magistrat der Stadt Hannover die Stirn gehabt hat, von ihm den freiwilligen Rücktritt zu verlangen.
Was hat Lessing verbrochen? Nun, abgesehen davon, daß er Jude und der einzige der hannöverischen Professoren ist, dessen Name über Deutschlands Grenzen hinausgedrungen ist, hat er einige Bücher geschrieben, die eine in besseren Kreisen nicht geschätzte Weltanschauung enthüllen. Dann hat er in der Presse Berichte über den Fall Haarmann veröffentlicht, die dem Gericht und allen besseren Bürgern unsympathisch waren. Und schließlich hat er im Vorjahr, als die Kandidatur Hindenburgs propagiert wurde, im größten Blatt der Deutschen in der Tschechoslowakei eine psychologische Studie über Hindenburg geschrieben, die Linksgerichtete ihrer Mäßigung wegen in Staunen, die Reaktionäre aber, da sie nicht ins allgemeine Hurragebrüll paßte, in Rage versetzt hat.
Daher also das Kesseltreiben der jeunesse dorée gegen Lessing. Das Toben der entfesselten Masseninstinkte gegen den Einen.
Diese akademische Jugend von heute benimmt sich wie Mob, wie Janhagel. Es gab Zeiten, in denen die jungen deutschen Studenten sich opferten für eine große Sache. Da jeder von ihnen sich hingab, aufgab für das Allgemeine. Heute opfern sie sich nicht; heute wollen sie opfern: einen anderen, einen Einzelnen, auf dem Altar ihres Dünkels, ihrer politischen Verhetztheit, ihrer grünen Unverschämtheit. Damals, 1813, 1848, 1914 haben sich Studenten hingeworfen, bereit, unterzugehen für etwas großes — ja, auch 1914! Sie haben sich nicht wichtig gemacht, sondern sich freiwillig erniedrigt für die Sache, an die sie glaubten. Ob der Glaube ein guter, wahrer oder ein schlechter, trügerischer war, ist nebensächlich. Es war Demut, Dienstbereitschaft, Bescheidenheit und darum Größe in ihrem Handeln. Aber heute üben sie aus Eingebildetheit, Selbstüberhebung, lausbübischer Radausucht Terror gegen einen einzigen Mann. Das ist ihre Tapferkeit. Das ist ihre Tapferkeit.
Und darauf sind sie noch stolz. Ein jämmerlicher Stolz, das!
1926, 25, Max Barth