Vor der Wahl – Eine Rede an Sozialdemokraten

Führende der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) um 1900. In der hinteren Reihe 3.v.l. Wilhelm Liebknecht, in der vorderen Reihe 3.v.l. August Bebel. (© picture-alliance/dpa)

— Jg. 1920, Nr. 22 —

Parteigenossen! – Ich bin nämlich „Genosse“, und zwar einer von der Mehrheits- (oder bald Minderheits-?) Partei; und ich rede zu euch von dieser Rednerbühne aus, weil ich von der Bühne der „Tagwacht“ oder des „Sozialdemokraten“ aus nicht so reden könnte, wie ich reden muß…

Parteigenossen! Es ist nun mit der Wahl der Augenblick wieder da, der euch eine politische Entscheidung in die Hand legt, die Entscheidung darüber, was in Zukunft aus der Sozialdemokratie werden soll. Und es kommt nun alles darauf an, daß ihr den ernstlichen Willen habt, das gut zu machen, was ihr im vergangenen Jahr schlecht gemacht habt. Denn darüber sind wir uns ja wohl alle klar: die Sozialdemokratie hat aus der Revolution nicht das gemacht, was sie hätte machen sollen und machen können. Man hat es oft gesagt, und es gibt kein wahreres Wort: die deutsche Revolution ist zu einem Lohnkampf geworden. Höhere Löhne und verminderte Arbeitszeit: das habt ihr herausgeschlagen; dafür habt ihr die Macht eingesetzt, die euch die Revolution gegeben hat. Ist das aber das Ziel der Sozialdemokratie? Haben dafür die Männer eures Heldenzeitalters, die Bebel und Liebknecht, gelitten und gestritten, daß ihr mehr verdient und weniger arbeitet? Haben sie nicht gekämpft für eine neue Gesellschaftsordnung, die jeden zu einem Vollbürger des Staates macht, für ein neues Wirtschaftssystem, das jedem ein würdiges Menschendasein sichert, für eine Idee also, die nicht damit verwirklicht ist, daß ihr bequemer lebt als zuvor. Die Erfolge eures Lohnkampfes bedeuten für den Sozialismus rein gar nichts. In dem großen Krieg zwischen Sozialismus und Kapitalismus sind sie gelungene Beutezüge, aber keine Siege, und (um im Bild zu bleiben) über’m Beutemachen habt ihr den Sinn des ganzen Krieges aus dem Auge verloren. Ihr habt den Geist des Kapitalismus in eure Seelen hineingelassen und seid nun ebenso von ihm besessen, wie eure Todfeinde, die ihr Kapitalisten nennt: das ist die Wahrheit.

Freilich, die Schuld liegt zum großen Teil an euren Führern. Sie haben versagt, so gründlich, so kläglich versagt, daß es zum Heulen ist. Als die Revolution ausbrach, da schlug ich mich durch ein öffentliches Bekenntnis zur Sozialdemokratie. Hier, so sagte ich mir, sind die Männer, die was Rechtes wollen und die die Kraft haben, es zu wollen. Die bürgerliche Gesellschaft ist unter dem alten Regime satt, faul und unfruchtbar geworden: die bringt keine Männer von großem Zuschnitt hervor. Die Sozialdemokraten, die werden sich nun daranmachen, das deutsche Haus, das verpestet ist, vom Geist eines seelenlosen Autoritätsprinzips, vom Standes- und Bildungsdünkel seines Bürgertums, vom Geist der Lüge und Phrase, die sich auf Thronen, Kanzeln und Kathedern blähte, vom Geist eines gewissenlosen Streberund Schiebertums, das Krieg und Revolution nicht gezeugt, sondern nur entbunden haben,… sie werden sich daranmachen, das deutsche Haus reinzufegen von all dem Dreck, den eine Periode kapitalistischen Gedeihens darin angesammelt hatte.

Was aber taten nun diese Revolutionshelden? Daß Gott erbarm! Sie begannen mit einer weltgeschichtlichen Dummheit: sie traten in die Regierung ein. Man kann sich denken, wie die Herren von der Rechten schmunzelten, als unsere Leutchen, vom Ehrenspeck gelockt, in die Mausefalle hineinspazierten und sich freundlich und dienstfertig anschickten, die Kriegsschweinerei aufzuputzen, die im Grunde doch die anderen angerichtet hatten. Das war ein schwerer taktischer Fehler, der sich rächen wird und schon gerächt hat, da man auf euch nun die ganze Last der Unzufriedenheit wirft, die sich in unserem furchtbar geschlagenen Land naturgemäß gegen jede Regierung angesammelt hätte … ein schwerer taktischer Fehler, aus Dummheit und Eitelkeit. Das war schlimm genug, aber es kam noch schlimmer. Unsere Regierungsmänner schienen ihre Hauptaufgabe darin zu sehen, sich um jeden Preis auf dem ewig schwankenden Ministerstühlchen zu halten, und wenn einer stürzte, wie der edle Scheidemann, so war es gewiß nicht, weil er mit zu großer Energie für sozialistische Gedanken eintrat. Kompromisse nach allen Seiten, behutsames Leisetreten nach rechts, demokratische Verbrüderung mit Ultramontanen und Demokraten: ein politischer Eiertanz, bei dem man Stück um Stück die Rüstung sozialdemokratischer Überzeugungen ablegte, um sich leichter bewegen zu können. Wer nicht mitmachte, wie unser tapferer Sakmann u.a., wurde kaltgestellt: man wollte keine Kämpfer. Und das alles mit der ewig wiederholten Begründung: man sei nun einmal in einem demokratischen Staat und man habe eben leider nicht die Mehrheit. Aber, zum Teufel, wo bleibt denn da der revolutionäre Gedanke? Seht ihr denn nicht, daß es Kompromisse gibt, die ein Mensch, der eine Idee vertritt, schlechterdings nicht machen darf, weil er sonst zum Verräter wird am Besten, was er in sich trägt? So bereit waren diese Leute zu Kompromissen, daß ihnen auch nicht ein einziges Mal der Gedanke kam, mit ihrem Rücktritt zu drohen, was zu einer Zeit, da der Rechten der Schreck über die Revolution noch in den Gliedern saß, von der besten Wirkung gewesen wäre. So bereit zu Kompromissen, daß sie auch nicht ein einzigesmal die Massen aufgerufen haben, für einen politischen Gedanken ihre Macht in die Wagschale zu werfen. Ach, sie waren so gerührt, unsere Leutchen, daß man sie so nett ankommen ließ! Die anderen sollten sehen, daß der Sozi auch ein Mensch ist, sozusagen, besonnen, belehrbar, gerecht, kein roher Fanatiker und wilder Mann. Fürwahr! So harmlos, so gutmütig, anständig, bescheiden, verträglich, war nie eine Revolutionsregierung! Niemand wurde ein Haar gekrümmt: weder den Monarchisten und Militaristen noch den Kapitalisten, weder der Schule noch der Kirche, weder den Bürokraten noch den Schiebern. Nur gegen Links war man energisch. Da hatte man auf einmal Grundsätze. Warum wohl? Nun, dort standen wirkliche Gegner, nicht Gegner der Anschauung (beileibe nicht! denn um Anschauungen kann man markten), sondern persönliche Gegner, Leute, die auch Führer sein wollten und die da anfingen, die Massen ihren alten Führern zu entfremden. Das freilich war eine ernsthafte Sache! Da mußte man streng sein.

Nun werden diejenigen unter euch, die links stehen, sagen: Ja, das waren die Mehrheitsleute; aber wir von der U.S.P und der K.P., wir sind doch andere Kerle! Liebe Freunde, bildet euch nichts ein! Als die Mehrheitsleute im Weimarer Schulkompromiß die deutsche Geistesfreiheit schamlos verhandelten, wo waret ihr da? Ist die Schul- und Kirchenfrage am Ende auch für euch ein heißes Eisen, wie für die Herren Demokraten, die sich, als die Krise kam, rechtzeitig um die Verantwortung zu drücken wußten? Und was habt ihr sonst Reelles getan und geleistet? „Diktatur des Proletariats“ habt ihr gebrüllt ─ gut gebrüllt, in allen Tonarten, ich gebe es zu ─ und habt die Massen mit diesem Zauberwort betört. Aber was ihr diktieren wollt, wenn’s darauf ankäme: davon schweigt die Geschichte. Und die Massen, die hinter euch dreinlaufen, sind so anspruchslos und bescheiden: sie haben ein neues, gutes Schlagwort; was dahinter steckt, interessiert sie wenig. Oh so brüllt nur weiter euer Diktaturgeschrei, aber hütet euch, daß ihr nicht einmal diktieren müßt! Das gäbe eine böse Verlegenheit und es käme zur ersten Verlegenheit der Sozialdemokratie die zweite… Fühlt ihr nicht die tiefe Unehrlichkeit und die öde Unfruchtbarkeit, die in eurer Schiagwortpolitik liegt? Meint ihr, dabei könne etwas Vernünftiges herauskommen? Meint ihr, ihr könntet ernten, wo ihr nicht gesät habt?… „Das Proletariat muß zur Herrschaft kommen… das übrige wird sich finden.“ O nie! Das übrige wird sich nicht finden. Sondern es wird sich finden, daß ihr zerstören könnt, aber nicht aufbauen. Und wenn ihr mir mit Rußland kommt, so sage ich: „Zeigt mir erst euren Lenin und Trotzki! Dann wollen wir weiterreden!“ …

Was aber sollen wir nun tun? fragen einige (wenige) von euch, die mir rechtgeben. Das will ich euch sagen!

Zum ersten: denkt ein bischen weniger an euer leibliches Wohl und mehr an Ideen. Bebel und Liebknecht haben nicht über die Probleme „Most“, „Marmelade“, „Zucker“ und dergleichen geredet. Die Ideen sind die großen Triebfedern des Weltgeschehens, die Ideen siegen. Beschäftigt euch ein bißchen mehr mit den Ideen des Sozialismus! Die Art, wie ihr mit dem geistigen Gut des Sozialismus umgeht, ist unwürdig und kindisch. Zum zweiten: Wählt andere Männer zu Führern! Nicht bloß eben andere, sondern Männer von anderem Schlag. Daß eure Führer versagt haben, muß euch zu denken geben. Ihr habt nicht das richtige Gefühl für das, was den Führer macht. Es kommt nicht vor allem darauf an, daß einer ein gerissener Hund sei und ein gewandter Schwätzer. Die Sorte taugt nichts: das haben wir gesehen. Und sie sind nicht bloß in unserer Partei. Ganz Deutschland wimmelt von ihnen, wie von Käsemilben, und stinkt von der gemeinen Routine und dem schleimigen Phrasengetratsche dieser schellenlauten politischen Toren. Denkt an das Wort des Dichters: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor“. Das ist’s, was wir brauchen: Männer von Verstand und rechtem Sinn. Männer, die an die Sache denken und nicht an ihren persönlichen Vorteil. Männer, die Charakter haben, einen klaren Kopf und einen festen Willen.

…Das laßt euch gesagt sein, ehe ihr zur Wahlurne schreitet. Und damit Gott befohlen!

1920, 22 Wolfgang Pfleiderer