Wie Wilhelm

Kommt es nur mir so vor, oder hat der neue deutsche Reichskanzler wirklich diese frappante Ähnlichkeit mit Wilhelm dem Zweiten von Hohenzollern?

Natürlich nicht äußerlich, meine ich. Obwohl man vielleicht auch da… Wenn man sich die Barttracht anders vorstellen würde… Aber das spielt keine Rolle. Ich denke an das Auftreten, an den geistigen Habitus, an die Charaktereigenschaften.

Erinnert ihr euch noch an den früheren Kaiser? An seine fabelhafte Vielseitigkeit und Beweglichkeit? An jene Impulsivität, die den politischen Beamten des Zweiten Reichs so manchesmal zu schaffen machte? An seine Frömmigkeit, die auf einer gewissermaßen persönlichen Fühlung mit Gott zu beruhen schien? An die naive Freude am Reisen und Reden, die ihn beherrschte, so daß er „bald hier, bald da“ zu sehen und zu hören war, in Uniform und Zivil, in allen Sätteln gerecht, von allem etwas verstehend, überall zu Hause? Wer sich ihm entgegenstellte, den wollte er zerschmettern (z.B. die bösen Sozialdemokraten); er gedachte sein Volk herrlichen Zeiten entgegenzuführen; er war der Friedenskaiser und rutschte dann freilich in einen Krieg hinein. (Und den Krieg verlor er.)

Und der neue Kanzler? Hat er in der kurzen Zeit, die er nun im Amte ist, nicht schon eine ganze Reihe von Zügen entwikkelt, die geradezu frappant an den ehemaligen deutschen Kaiser erinnern?

Auch Adolf Hitler liebt die markigen Reden, die Ansprachen an sein Volk, und hat dabei den technischen Vorsprung des Rundfunks und des Flugzeugs voraus, Einrichtungen, die es damals noch nicht gab und um deren Handhabung ihn Wilhelm der Verflossene wahrscheinlich ehrlich beneidet.

Auch Adolf Hitler betrachtet den „allmächtigen Gott“ als seinen speziellen Bundesgenossen, mit dem zusammen er die Wiederauferstehung der Nation herbeiführen wird, ein „Reich der Größe, der Kraft, der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit, Amen“, wie er im Anklang an das Vaterunser jene Berliner Sportpalastrede vom 10. Februar geschlossen hat.

Auch Hitler will den Kommunismus und „Marxismus“, wie man jetzt sagt, ausrotten; er will Christentum und Familie in seinen Schutz nehmen; er tritt für die „Erhaltung und Festigung des Friedens“ ein und strebt mit allen Kräften nach Abrüstung. Dann passiert es ihm freilich zwischendurch (wie Wilhelm s. Z. die Daily-Telegraf-Affäre), daß ein Engländer ein Interview nicht ganz einwandfrei wiedergibt und daß Mißverständnisse wegen des polnischen Korridors und so berichtigt werden müssen.

Freitag abend spricht er vor dem begeisterten Publikum im Berliner Sportpalast über die deutsche Zukunft, am Sonntag eröffnet er mit einer äußerst sachkundigen Rede die deutsche Automobilausstellung und steht am seihen Tag noch in Kassel, „an der Stelle, von der aus ein Kaiser und ein Bismarck den Friedrichsplatz überschauten“ (Völk. Beobachter vom 13. Februar), und am Sonntag Mittag finden wir ihn in Leipzig dabei, wie Richard Wagners 50. Todestag begangen wird. Er darf da nicht fehlen.

Könnte man diese Wiederkehr Wilhelms II. in anderer Gestalt nicht beinahe gespenstisch heißen?

Jedenfalls ist sie kein Zufall. Das deutsche Volk will offenbar solche Führer haben wie Wilhelm und Hitler.

Sollen wir ihm wünschen, daß das Ergebnis diesmal anders ausfalle? Wird es, kann es mit der Herrlichkeit des dritten Reiches ein anderes Ende nehmen als mit der des zweiten?

1933, 8 · Erich Schairer