— 1. Jg. 1920, Nr. 1 —
Das arme deutsche Volk ist durch die Borniertheit und Leichtfertigkeit einer Regierung, die seinem Erleben und Erleiden fremd und verständnislos gegenüberstand, in einen unglückseligen Krieg hineingerissen worden. Während dieses Kriegs hat eine politisch unfähige, rücksichtslose Militärkaste die Macht an sich gerissen und die sich mehrfach bietenden Gelegenheiten zu einer vernünftigen Liquidierung des Kriegs von sich gewiesen. Dann hat sich das alte Sprichwort ,Hochmut kommt vor dem Fall‘ erfüllt. Die militärische Niederlage hätte jedoch noch nicht ohne weiteres eine politische zu werden brauchen, wenn nicht durch die Schuld des Unglücksmenschen Ludendorff ein voreiliger und kopfloser Waffenstillstand geschlossen worden wäre. Er drückte das Siegel auf den vollkommenen Zusammenbruch. In ihm sind die alten politischen und militärischen Gewalten verschwunden. Die Revolution hat Kaiser und Könige, Generäle und Minister hinweggefegt und die deutsche Republik, den hundertjährigen Traum der Patrioten, erfüllt. Aber es war ein schlimmes Erbe, das sie antreten mußte. Wohl waren die schuldbeladenen Häupter verjagt; aber die Folgen der Vergangenheit waren damit nicht aus der Welt geschafft. An diesen bitteren Folgen haben wir jetzt zu würgen, und wir wissen beim Anbruch dieses kommenden schweren Jahres [1920] noch nicht, ob wir nicht daran ersticken werden.
Ob wir wieder aus dem Elend herauskommen werden, hängt von zweierlei Umständen ab. Einmal von dem in mehr als einer Beziehung zweifelhaften Wohlwollen der bisher feindlichen Regierungen. Es wäre schlimm, wenn wir uns darauf allzusehr verlassen wollten oder sogar einzig verlassen müßten, wie Österreich. Und umso weniger wird dies nötig werden, je mehr wir selber die Kraft finden, uns aufzuraffen. Das heißt: je entschlossener, entsagender, ernsthafter wir uns zu gemeinsamer, planvoller Arbeit im Dienste des deutschen Vaterlandes zusammenschließen.
Leider ist von einem solchen Zusammenschluß, von einem sieghaften Erwachen des Solidaritätsgedankens (das verstehe ich auch unter Sozialismus und Sozialisierung) bisher in Deutschland nicht viel zu bemerken. Weder politisch noch wirtschaftlich noch sozial. Die Vereinigung der deutschen Einzelstaaten zum einen Deutschland wird zwar mehr und mehr als nationale und wirtschaftliche Notwendigkeit eingesehen, aber noch ist die Bereitschaft dazu über Trägheit und Eigenbrödelei nicht Herr geworden. Die alten Parteien sind mit neuen Firmenschildern wieder auferstanden und zanken sich über dieselben Worte (denn zu Taten kommt es nicht) und mit denselben widerlichen Methoden wie früher. Der Zusammenschluß der wirtschaftlichen Gruppen und ihre Einordnung in einen planvoll funktionierenden Gesamtorganismus ist zwar weithin als wünschenswert und vernünftig erkannt; aber noch steht Industrie gegen Handel, Stadt gegen Land, Verbraucher gegen Erzeuger; und der wirtschaftliche Egoismus feiert höllische Triumphe. Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der Friede zwischen den Ständen und Klassen, wird zwar unermüdlich gepredigt; aber alle Predigt hat die tiefe Kluft der Entfremdung und des Übelwollens, die von altersher befestigt ist, noch nicht zuschütten können. Wir leben dem Buchstaben nach in einer sozialen und demokratischen Republik; aber der Geist des Sozialismus und der Demokratie, der Rücksicht, Verständnis, Wohlwollen und Gerechtigkeit bedeutet, ist nicht zum Leben erwacht.
Diesem Geiste wird diese Zeitung dienen. Sie wird eintreten für die Gleichberechtigung aller Volksgenossen ohne Unterschied des Standes oder Berufs und für das Recht der Allgemeinheit, das vor dem Einzel- oder Gruppeninteresse rangiert; sie wird kämpfen gegen Standesvorurteile und Eigennutz, gegen jedwede Ungerechtigkeit und das Erbübel der Deutschen: die Zersplitterung. Der deutsche Einheitsstaat, die Gemeinwirtschaft und die Wahrung der Menschenwürde sind ihre drei Leitsterne für Politik, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung. Sie wird national und sozial sein. Aber wie sie innerhalb des Volkes für Frieden und gegenseitiges Verständnis eintreten wird – das bedeutet ,sozial‘ – , so wird sie auch in der äußeren Politik nicht etwa nationalistisch und national verwechseln. Auch die Völker und Nationen sind zur Gemeinschaft bestimmt und nicht zur gegenseitigen Zerfleischung. Sie sollen und werden einander anerkennen und verstehen lernen. Die Völker hassen sich nicht; trotz aller giftigen Saat, die von falschen Führern und ihrer Presse ausgestreut worden ist und jetzt wieder ausgestreut wird. Auch diese Verhetzung soll hier kein Echo finden.
Es mag vielleicht gewagt sein, in dieser Zeit und unter solcher Devise eine Zeitung ins Leben zu rufen. Sei es gewagt! Wenn der Widerhall ausbleiben sollte, dann umso schlimmer – nicht sowohl für mich als für das Gemeinwesen.
1920, 1 · Erich Schairer